Das kleine Wörtchen ‚oder‘ ist ja (wie schon im Titel unseres Blogs) oft nicht so ganz dingfest zu machen: Verbindet es sich ausschließende Gegensätze in einem entweder/oder? Oder handelt es sich um die friedliche Koexistenz benachbarter Möglichkeiten in einem und/oder?
M. meinte ersteres. War er zunächst mit avantgardistischen Sprachexperimenten im deutschen Literaturbetrieb bekannt geworden, hat er sich seit einiger Zeit gegen das reine „Turnen am Sprachseil“ und für eine erzählerische Verarbeitung der „Erfahrung“ entschieden. Dabei entstehe das fiktionale Schreiben immer durch einen „höchst unfreiwilligen Auslöser zum falschen Zeitpunkt“. Auch wenn er immer noch kein „Kamikazeschreiber“ ist, sondern sich vor dem Schreiben einen genauen Plan für den Aufbau seines Textes macht, so könnte man ihn vielleicht als ‚Kamikazeerfahrungsammler‘ bezeichnen. Jedenfalls turnt der aktuell als writer in residence an der Uni London ansässige Schriftsteller munter durchs Leben. Dabei begibt er sich (keineswegs unfreiwillig) mit dem Bus in irgendwelche Außenbezirke, um Unimitarbeiterinnen hinterher mit Erzählungen über knapp entronnene blutige Messerstechereien zur Verzweiflung zu bringen.
Eine kleine Gießener Delegation hatte das Vergnügen, mit diesem ‚Männerbeauftragten der deutschen Literatur‘ („Frauen. Naja. Schwierig.“ In: Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe. 66 Gedichte) um die nächtlichen Häuser Londons zu ziehen bzw. zu rennen, um vor 23 Uhr noch durch die Tür einer Kneipe im Londoner East End zu schlüpfen. Glück gehabt, eine Schlüsselumdrehung im Schloss hinter uns und ein Häuflein Verrückter: „I serve you ‘cause I like you.“ Sultans of Swing-Performance des Wirtes und barmherziger Samariter-Performance von M., als er seinen Mantel einem farbigen Stammgast anzieht, der seine Abende seit 20 Jahren hier verbringt und den feinen glänzenden Stoff bewundert. „Do you un-der-stand my Eng-lish?“ – „Why should they? Nobody does”, grummelt es vom Tresen. Kommentar des Wirtes: “You don’t have to be mad to drink here – but it helps.” Was hingegen „gar nicht hilfreich“ ist, erfuhr M. von befreundeten Herren: „Liegenbleiben/ keinen Alkohol trinken“ und hielt sich daran. Und von befreundeten Damen hieß es, „am allerwenigsten: der feste Vorsatz, mit fremden Männern zu flirten“ („Was dagegen hilft“ In: Die Sekunden danach. 88 Gedichte) – und ich hielt mich daran.
Obwohl laut M. sicherlich bloß Viskose, holte er sich beim Abschied doch seinen Mantel zurück. „Das schwerste ist tatsächlich, keinen Roman zu schreiben“, so M. später auf der Frankfurter Buchmesse. Deshalb hier nur noch der Wink mit dem ARD-Mikro und Schluss für heute.
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