„Das ist das Versprechen der Popmusik“, sagt ein Freund immer zu mir, wenn ich mir wieder einmal irgendwie ertappt vorkomme, weil ich mich in fast jedem Lied einer von ihm zusammen gestellten CD wiedererkenne, und frage, woher er wusste, wie es mir geht und was mich gerade beschäftigt. So oft sehen wir uns nun auch nicht. Es ist das Versprechen der Popmusik, das jede_r sich darin selbst zu finden meint, wohl auch, weil wir sie selektiv auf einzelne Verse hin hören, es nicht immer notwendig scheint, die gesamte Geschichte (im Sinne sowohl des historischen Entstehungskontexts als auch des Plots) mitzubedenken. Auch kann mensch ebenso Männer- wie Frauenstimmen für sich sprechen bzw. singen lassen, sich gar im selben Lied mal mit dem singenden Ich, mal mit der angesungenen Du identifizieren. Die Konstellationen verschiedener Projektionen überlagern sich, werden von der Musik aufgenommen, erzeugen interessante Klänge, ohne wie im lineareren Medium der Schrift etwa eines Romans zu sagen: Naja, meine Geschichte ist eben doch eine ganz andere und letztlich nicht vergleichbar oder gar in Deine integrierbar.
Es war noch vor dem endgültigen Sieg der CD über die Kassette, als sich auf einem der Mixtapes, die ich von besagtem Freund bekam, u.a. „I will survive“ befand, in der Coverversion von Cake natürlich. In wie vielen Lebensstadien und -lagen ich schon auf dieses Lied, sowohl in der Original- als auch in Coverversionen, getanzt habe. Es war mir immer schon irgendwie kitschig vorgekommen und doch erzeugte es beim Tanzen jeweils eine Versenkung in mich selbst, eine Identifikation mit dem singenden Ich. Und irgendeinen (meist banalen) Grund gab es immer, ein trotziges „I will survive“ für sich zu reklamieren: Ich werde es überleben, dass dieser Typ da sich gerade für eine andere interessiert; ich werde es überleben, dass mir die Rockmusik meines Jugendcafés fehlt und hier nur Mainstreamquatsch gespielt wird; ich werde es überleben, dass ich mal wieder ein Land verlasse und die Menschen schon jetzt vermisse; ich werde es überleben, dass mein Gefühlsleben ein einziges Chaos ist …
Vielleicht ist es die Kombination aus meiner eigenen ‚Beziehung‘ zu diesem Lied mit meiner literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Erinnerung und Gedenken an die Shoah, dass ein Video, welches schon seit einigen Tagen durch die Presse geht, immer noch in mir nachwirkt.
Ein Überlebender, Adolek Kohn, tanzt mit seinen Enkel_innen in Auschwitz und an anderen Orten der Vernichtung von Juden und anderen Minderheiten durch die Nationalsozialisten auf „I will survive“. Es ist eine Art Transponieren des 1943 im Wilnaer Ghetto geschriebenen jiddischen Liedes „mir lebn eybik“ in ‚unsere‘ Musikwelt (die auch schon wieder Geschichte ist, wenn auch nicht die große). „Wir werden leben und erleben, schlechte Zeiten überleben, wir leben ewig, wir sind da!“, hieß es damals zur Vergewisserung des Noch-Mensch-Seins, zur Demonstration des Über-Lebenswillens.
Heute nun dient ein Lied, das vom Weiterleben nach enttäuschter Liebe handelt, zur Demonstration, dass dieses Über- und Weiterleben, allen Vernichtungsplänen der Nazis zum Trotz, einigen gelungen ist, dass sie sich gar eine Lebensfreude bewahren konnten, die zum Tanzen bringt.
Wenn “Arbeit macht frei” damals eine eindeutige Lüge war, kann heute “Tanzen macht frei” als Wahrheit aufgefasst werden, und wäre es nicht eine allzu reduktionistische? Als die Wahrheit aber braucht man das Video gar nicht zu sehen, um es als anregend irritierenden Impuls im immer auf die Gegenwart ausgerichteten Erinnerungsdiskurs zu empfinden, der sich allzu oft in den immer gleichen Phrasen verliert. Es ist gerade diese Dissonanz aus alltäglichem Songtext, eher simpler Choreographie auf der einen und der Kulisse, welche das Ausmaß des Mordens aufruft und das Wissen, dass der Großteil der Lagerinsassen heute nicht dort tanzen kann, andererseits, die das Video so eindrücklich machen. Versprechen und Grenzen der Popmusik spiegeln Herausforderungen und Grenzen heutigen Gedenkens, Weiter- und Überlebens. Als Beispiel einer den Sakralisierungen des Holocaust widerstehenden neuen Affektkultur nennt Harry Nutt in der FR dieses Video. Und in der Tat rief es bei mir Affekte hervor, auch solche, die ich in der Regel als Betroffenheitskitsch weit von mir weisen würde: vom unwillkürlichen Schmunzeln über feuchte Augen, vom innerlichen Kopfschütteln bis zum Mittanzen Wollen…
Mittanzen Wollen, wie absurd. Ebenso absurd, wie einen Artikel über Auschwitzgedenken mit eigenen Gefühlsverwirrungen bei kitschigen Popsongs zu beginnen. Aber vielleicht ‚leistet‘ das Video gerade das: eine Verbindung zu unserer eigenen banalen Lebenswert herzustellen, die nichts mit Vergleichbarkeit zu tun hat, die vielmehr zeigt, was sich für uns heute alles höchstens noch intellektuell als geschichtliche Fakten aufnehmen, aber nicht körperlich begreifen und emotional nachvollziehen lässt.
Alltagssorgen und -wünsche sind im Angesicht von Auschwitz eine unverschämte Geschmacklosigkeit. Lächerlich, nicht der Rede wert, unbedeutend wie das eigene Leben. Denkt man an den Tod in Auschwitz, ist Glück der Gipfel des Wahnsinns, die Liebe obszön, die Lebenslust eine Niedertracht,
schreibt die Schriftstellerin und Überlebendentochter Gila Lustiger in ihrem Familienroman So sind wir, um dann allerdings vor den Folgen einer solchen Haltung zu warnen:
Hält man sich auf ‚Nummer sicher‘, schmerz- und reizlos, und gibt sich nur mit dem Allernotwendigsten ab: Essen und Arbeiten, Arbeiten und Essen, und außerdem – Schlafen, Zeugen, Geborenwerden und Sterben. Das ist wie eine Kollektiverstarrung. Ewiger Frost. Eiszeit.
Als eine von vielen möglichen und vielleicht notwendigen Perspektiven im heutigen Erinnern der Shoah zeigt Adolek Kohn beides: den historischen Bruch, den die Chiffre Auschwitz benennt, wie die Notwendigkeit, trotzdem zu tanzen. Bei diesem Lied werde ich in Zukunft wohl an Adolek Kohn und seine Enkel_innen denken, und damit auch an die nationalsozialistischen Verbrechen, statt egozentrisch um mich selbst zu kreisen. Das ist jedoch eher eine Bereicherung als eine Einschränkung. Die Popmusik ist reichhaltig und es gibt noch genug andere Lieder, die ich für meine (meist banalen) Gefühlsverwirrungen tanzbar machen kann, um nicht in ewigem Frost zu erstarren. Es lebe das Versprechen der Popmusik, auch wenn es nicht alles (ein)lösen kann.
In einem Interview in der ZEIT vom 11. Januar 2007 sagte Gérard Depardieu einmal, populäre Chancons seien wie konservierte Gefühle in einem musikalischen Marmeladenglas. Sie stehen uns bei und fürchten nicht den Kitsch. „In dieser Ehrlichkeit“, so Dépardieu, „im direkten Bezug auf gelebte Gefühle liegt für mich die Weisheit des Trivialen.“
Ich habe nun allerdings noch nie diese ‚Weisheit des Trivialen‘ als etwas begriffen, das dabei helfen könnte, mit dem Wahnsinn der NS-Vernichtung umzugehen, beides in irgendeiner Weise miteinander in Verbindung zu bringen, zu kontrastieren oder einfach nur nebeneinander zu stellen – am Ende gar neu damit zu leben.
Doch dieses Video schafft genau diesen Wahnsinn, indem er sich die Unfassbarkeit des Trivialen traut: Dass diese Familie aus drei unterschiedlichen Generationen zusammentritt und an den Gräbern zu ‚I will survive‘ tanzt, ist ein ‚JA‘ zum Leben, das den Tod überlebt hat und mit ihm weiterlebt.
Ich denke dabei an einen Satz von Julio Cortázar aus ‚Rayuela‘, der auf andere Weise sagt, was Adolek Kohn, seine Tochter und EnkelInnen tun:
„… durch den Wahnsinn konnte man vielleicht zu einer Vernunft gelangen, die nicht diese Vernunft wäre, deren Bankrott Wahnsinn ist.“
Danach wohl ist zu suchen … Vielen Dank für diesen Beitrag!
Diesen in einen persönlichen Erfahrungsbericht mit „I will survive“ gehüllten Kommentar zu Dancing Auschwitz, kann man wohl nur richtig mit einem eigenen Erfahrungsbericht würdigen. Dass hinter all dem das Versprechen der Popmusik steht, würde sicherlich auch zu einigen interessanten Bemerkungen anregen. Aber die erspare ich mir an dieser Stelle, um vielmehr in aller Bescheidenheit und (zumindest intendierter) Kürze über das Versprechen zu reden, welches dieses Lied bei mir einlöst. Ähnlich wie mimmiamara finde auch ich immer wieder einen Identifikationsanlass, der mich auf die Tanzfläche zieht und der einen oder anderen Unwegsamkeit in meinem Leben trotzig „I will survive“ entgegen singen lässt. Ohne ein gewisses Unwohlsein gingen mir diese Worte jedoch noch nie über die Lippen, obwohl ich es gern und voller Inbrunst mit-„singe“. Denn hinter dem Optimismus, der in der titelgebenden Songzeile zum Ausdruck kommt, zeichnet sich eine schmerzhafte Vergangenheit ab ebenso wie eine unsichere Zukunft. Die unglückliche Liebe von der dieses Lied handelt, liegt zwar irgendwie in der Vergangenheit, aber eben nicht ganz. Nichts anderes bringt der Futur „I will survive“ zum Ausdruck. Wäre es anders, müssten wir kollektiv in den Wohnzimmern und auf den Tanzflächen dieser Welt nicht vielmehr„I did survive“ singen?
Für mich ist es nicht zuletzt diese Unabgeschlossenheit, die meine Faszination für dieses Lied ausmacht. Auf der einen Seite erzählt es von einer schmerzhaften Vergangenheit und dem steinigen Weg dorthin diese hinter sich zu lassen. Andererseits ist es in die Zukunft gewandt, eine Zukunft in der das singende Ich überleben wird. Nur wie? …
Dass Adolek Kohn gemeinsam mit seiner Tochter und seinen Enkelkindern nun unter anderem in Auschwitz zu diesem Lied getanzt hat, finde ich vor diesem Hintergrund wenig skandalös. Der „survior“ Kohn tanzt zu „I will survive“. Auch wenn die Befreiung der Konzentrationslager bereits mehr als 60 Jahre zurückliegt, als Überlebender muss Kohn weiterhin überleben. Zwischen dem längst vergangenen Ende der Shoah und dem noch immer in der Zukunft liegenden Überleben werdens und wollens von Adolek Kohn, spannt sich ein paradoxer Zwischenraum auf. Paradox ist dieses Zwischen, weil sich in der Gegenwart (des Tanzes) stets beide Zeitformen überlagern. Der Überlebende will und wird überleben. Wenn Dancing Auschwitz dies bei mir in Erinnerung ruft, dann werden hierdurch keineswegs die Opfer der NS-Vernichtung Vergessen gemacht. Zugegeben, der Blick auf all jene, die in den Konzentrationslagern ums Leben gekommen sind, ist allenfalls indirekt vorhanden. Er zeichnet sich jenseits des „Ich“ in „I will survive“ schemenhaft als Frage ab, wer nicht überlebt hat. Doch hierum geht meines Erachtens nicht. Was das Video zu Bewusstsein bringt sind keineswegs die Schrecken von Auschwitz oder gar der Shoah insgesamt. Wer dies darin sucht, wird nicht fündig und kann sich letztlich nur empören. Dancing Auschwitz ist für mich kein Symbol der NS-Vernichtungspolitik, sondern es führt mir auf eine bezaubernd einfache und zugleich ernüchternd traurige Weise die Paradoxie des Überlebens vor Augen. Ein Überleben, welches auch Teil der Geschichte von Auschwitz, Dachau, Theresienstadt, Lodz und all den anderen Orten der NS-Vernichtung ist.
Schade finde ich deshalb, dass die Inhaber der Rechte an Gloria Gaynor’s „I will survive“ mittlerweile Jane Korman die Verwendung des Liedes untersagt haben. So findet sich auf ihrer Webseite und in ihrem Youtube Profil nur noch eine Version des Tanzes ohne musikalische Untermalung. Die Distributions- und Aufmerksamkeitslogik des WWW läuft derartigen Verboten jedoch glücklicherweise entgegen.