„Ich glaube wirklich, dass die Sätze auf der Straße liegen“, sagt der Protagonist des Textes „Über Peanuts, mich und andere Sachen“, der auf dem diesjährigen open mike mit dem taz-Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Der Text von Sebastian Polmans beginnt mit dem Wort „Shit“, webt in seine rhythmischen Sätze immer wieder Song-Zitate ein und überzeugte die Publikumsjury mit der Erotik einer Nonne an einer Bushaltestelle im Regen eines heißen Sommertags, „can’t touch this“.
Ob die anderen 700 Jungautor_innen, die dieses Jahr ihre Texte eingereicht hatten und von denen 20 an diesem 13. und 14. November in der Wabe im Berliner Prenzlauer Berg lesen durften, ihre Sätze auch auf der Straße gefunden haben oder in irgendwelchen Textwerkstätten und Schreibstudiengängen, sei dahingestellt. Die vier Lektoren und zwei Lektorinnen, die die 20 Lesenden ausgewählt hatten und im Februar mit ihnen eine Textwerkstatt durchführen werden, jedenfalls freuten sich über die enorme Vielfalt sowohl in der Themenwahl als auch in den rhetorischen Mitteln. Ob in der Badewanne, an der Tankstelle, in Australien oder auf einem Frachtschiff, ob mit kurzen wuchtigen Hauptsätzen oder raffiniert geschwungenen Langsätzen, gemeinsam sei den Texten dabei der genuine Wunsch des Geschichtenerzählens. Unter den Einsendungen gab es kaum historische oder reportageartige Stoffe, vielmehr sei eine starke Fokussierung auf Familie oder Beziehung zu merken – auf Zwischenmenschliches eben.
Überhaupt freuten sich irgendwie alle, und besonders über das Publikum, das dermaßen durch Aufmerksamkeit und Anzahl glänzte, dass bei der Preisverleihung nicht nur der Glaube an die Zukunft des Literaturbetriebs gepredigt, sondern auch die Frage in den Raum gestellt wurde, wer denn wohl das Publikum so gut erzogen habe. Und in der Tat protestierte dieses nicht, wenn es sich vom Lyriklektor Sätze anhören musste wie: „Geld und Geist trifft hier aufs Schönste zusammen, kondensiert sich in der Lyrik.“
Die auf Vermarktung ausgerichtete Logik des Förderpreises wurde in den letzten Jahren immer wieder kritisch erwähnt. „Die Welt weiß es schon“, ist der alljährlich geäußerte Einleitungssatz zur Preisverleihung. Die Zeitungsredaktionen wissen schon, wer gewonnen hat, „die Echtzeit braucht etwas länger“. Gefördert werden Texte, die dem Vorleseevent gerecht werden – da freut mittlerweile schon jede ‚Imperfektion‘, etwa das gelispelte s des Lyrikpreisträgers Levin Westermann, dessen Texte bald auf lyrikline.org von ihm eingelesen zu hören sein werden. In Zeiten von allerlei Sicherheitsstufen werden Blindbuchungen bei Fluggesellschaften möglich gemacht, um die vier Preisträger (dieses Jahr im nichtgenerischen Maskulinum) sofort am morgigen Dienstag nach Frankfurt, am Mittwoch nach Zürich und Freitag nach Wien zu befördern und so ihre Namen und Texte in die deutschsprachige Lesewelt zu transportieren. Und auch hier in Berlin sitzen schon die Verlagsleute auf der Suche nach neuen Talenten. Im Allitera-Verlag als Anthologie publiziert, werden die Texte von vielen im Publikum mitgelesen. In den Pausen höre ich zu meiner Rechten Diskussionen, welche davon sich zu einem längeren Werk ausbauen ließen und am besten noch eine „Botschaft“ haben.
Hanns-Josef Ortheil von der Jury leitete seine Worte mit der Bemerkung ein, der open mike komme ihm vor wie ein erweitertes Berlinfrühstück. Und vielleicht sind deshalb alle im Publikum so duldsam, weil sie wirklich vorher gut gefrühstückt haben und nun einen angenehmen Nachmittag in der Wabe verbringen, die durch die Scheiben dringenden Sonnenstrahlen im Nacken. Auch der schon etabliertere Jungautor zu meiner Linken, der sich des Öfteren Gedanken zur „Zukunft der Literatur“ macht, jedenfalls ist Teil dieses „lämmerhaufen[s]“, den er erst in seinem anschließenden Blogeintrag als solchen kritisiert.
Nur kurz unterbricht Ilija Trojanow von der Jury die allgemeine Lobhudelei: „Die Tatsache, dass dieser Preis open mike heißt, bedeutet nicht, dass Sie englisches Vokabular benutzen müssen.“ Und dann zählt er ein paar Nachbarsprachen auf, die sich in Texte ebenso gut einflechten ließen. Ansonsten aber freute sich die Jury, dass sie hier, anders als in Klagenfurt, dauernd schweigen darf, und sich erst anschließend bei „Diskussionen heftiger Natur“ unter einander die Köpfe heißredete und so lange über Katharina Hartwells Text „Götheborg“, der eine doppelte Erzählperspektive auf die Abgründe einer Familiengeschichte richtet, abstimmte, bis zwar jede_r mal für den Text gestimmt hatte, aber nie alle zugleich, und so doch die Zukunft des Literaturbetriebs dieses Jahr eine männliche ist.
Doch zum Glück muss man dem Jury-Gefasel von der „Sehnsuchtsgewissheit hinter kalter Abwesenheit“ und einer „Lyrik, die der Lyrik den Fehdehandschuh hinwirft“ nicht zustimmen, um sich doch an dem einen oder anderen Gedicht hungrig zu hören und sich nach einem „Mensch gewordene[n] Sommer“ zu sehnen. Und weil es wahrlich unangenehmere Orte gibt, sein Berlinfrühstück fortzusetzen, werden wir auch im nächsten Jahr wieder dort sitzen, den Geschichten lauschen wie den Rankings und Wichtigtuereien einiger Besucher_innen, uns mit den unbeholfenen Blumenstraußentgegennehmenden vor den Kameras fremdschämen und in den Pausen die neusten Flohmarkt-Klamottentrends zur Kenntnis nehmen. Und dann werden wir den Prenzlauer Berg wieder radelnd hinter uns lassen und uns anderen Büchern zuwenden.
Kommentar verfassen