Während die Konferenz Zugang gestalten dieses Jahr im Hamburger Bahnhof eine „Zwischenbilanz der unterschiedlichen Projekte zur Digitalisierung des kulturellen Erbes“ zog (vgl. die Eindrücke von der letztjährigen Konferenz im Jüdischen Museum Berlin), beschäftigte sich zeitgleich nicht allzu weit entfernt auch der Literaturbetrieb mit der Digitalisierung. Die Deutsche Literaturkonferenz hatte am 13. November zu einem Symposium mit dem Titel „Voll digital. 10 Jahre E-Books: Schreiben, Lesen und Verlegen“ ins Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität eingeladen.
Auch hier ging es um Zugang und wie er sich gestaltet bzw. wie wir ihn gestalten sollten. Kathrin Schmidt erzählte in ihren einführenden, wohlgewählten Worten, wie sie selbst nach und nach erst Zugang finden musste zum elektronischen Buch. Mittlerweile kann sie mit E-Books jedoch so gut ihrem Vielleserinnentum frönen, dass ihr Mann nur noch einmal im Jahr statt monatlich neue Regalbretter anbringen muss. Auch habe sich das Spektrum ihrer Lektüre erweitert, weil sie nun virtuell auch zu Büchern ‚greife‘, die sie eher nicht auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen würde, um Diskussionen zu vermeiden. Um welche Bücher es sich dabei handeln könnte, ließ Kathrin Schmidt offen.
Nina George, ebenfalls Schriftstellerin, führte in ihrem späteren Beitrag aus, dass sich die Warengruppe 483 – Buchhandelsbegriff für Erotika – als E-Book besonders gut verkaufe. Allerdings bereinigen (oder zensieren, je nachdem, wie man es ausdrücken will) Amazon und Apple ihre veröffentlichten Bestsellerlisten, indem sie diese Warengruppe aussortieren. Ebenfalls gut gehen Thriller, Fantasy und Romance, also Bücher, bei denen die Lesenden schnell Nachschub wollen. Zudem nutzen sowohl Verlage als auch Selfpublisher E-Books für Kurztexte von um die 60 Seiten, für Anthologien und zur Revitalisierung von Backlists. Ein besonderes Genre im Selfpublishing ist die sogenannte Fan-Fiction: Bekannte Figuren werden in eigenen Geschichten ‚verbraten‘.
Georges Vortrag trug den Titel „Ich liebe meinen Verleger, aber brauche ich ihn noch?“. Neben der Liebeserklärung an ihren Verleger enthielten ihre Ausführungen vor allem ein Abwägen der Vor- und Nachteile des Selfpublishing, das mit dem E-Book deutlich zugenommen hat. Seit 2008 wird mehr von Selfpublishern publiziert als von Verlagen, „alle zwei Sekunden kommt ein selbst publiziertes E-Book zur Welt: jetzt – jetzt – jetzt“. Zunächst geben Selfpublisher an, dass es ihnen um Kontrolle über den Inhalt, höhere Margen sowie vor allem Selbstverwirklichung, Ruhm und Spaß gehe – denn für zwei Drittel von ihnen ist Geld verdienen noch Nebensache. Schenkt man ihnen an der Bar ein bisschen mehr ein, erfährt man jedoch, dass besonders bei Debütautor_innen auch Angst vor Kritik und vor Textarbeit eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Bei bereits etablierten Autor_innen wiederum ist es meist eine Frusterfahrung, dass sich im Verlag ewig niemand meldet, sie durch nichtssagende Klappentexte und kaum Vertrieb das Gefühl haben, ihre Schreibarbeit werde nicht genügend wertgeschätzt. Außerdem kann man ein E-Book innerhalb von 21 Minuten selbst online veröffentlichen und so viel schneller auf Trends reagieren.
Vor ihrem ebenfalls anwesenden Verleger kam George dennoch zu dem Schluss „Ich brauche meinen Verleger durchaus.“ Unter anderem „damit ich nicht auf Facebook ständig krähen muss ‚kauft mich‘“ und damit sie statt für Marketing, Presse und Lektorat bzw. wenigstens Korrektorat ihre Zeit lieber tatsächlich für das literarische Schreiben nutzen könne. Außerdem seien Lizenzgeschäfte und die Übersetzung in andere Sprachen mit Verlag viel wahrscheinlicher. Und auch wenn die Bewertungssternchen das Verlegerlob ersetzen mögen, es fühle sich doch einfach gut an, gewollt zu werden. „Ich liebe meinen Verleger.“
Auf Zugang im Sinne von Barrierefreiheit/Accessibility fokussierte zuvor Elisabeth Ruge, die mit ihren vielfältigen Rollen im Literaturbetrieb dazu auserkoren worden war, das Gesamtpanorama zu „Schreiben und Lesen im 21. Jahrhundert“ (so der Vortragsuntertitel) aufzufächern. Sie hob vor allem die integrative Möglichkeit des Digitalen hervor. Zu dieser Erkenntnis kam sie, als sich Ziemlich beste Freunde als E-Book überdurchschnittlich gut verkaufte. Während wir alle von der Forschung für Blinde und andere print disabled persons profitieren (z.B. im Alter die Schriftgröße größer machen können), betreibe allerdings noch kaum ein Verlag den Aufwand, E-Books wirklich so zu nutzen, wie es möglich wäre. Hierzu trage auch der Trend bei, die Textarbeit immer mehr an (zwar gute) freie Lektor_innen auszulagern, so dass deren Wissen nicht im Verlag präsent sei.
Ruge plädierte somit für ein starkes verlagsinternes Lektorat, das mit einer guten, literarisch interessierten tagging-Abteilung zusammenarbeite. Statt tags nachträglich aufzupfropfen, könne man gemeinsam die statische Vorstellung des Buches auflösen und mit dem Epub3-Standard Enhanced E-Books erstellen, die diesen Namen wirklich verdienen. Eine weitere Utopie: Es möge nicht mehr jeder Verlag für sich herumwurschteln, was er mit diesen E-Books nun anfangen soll. Vielmehr wäre es wünschenswert, dass die Verlagswelt gemeinsam im open source-Verfahren an tools für gute, barrierefreie E-Books arbeite.
Damit sich Verlage mit Investitionen stärker auf das Abenteuer E-Book einlassen – so stellte Christian Sprang, Justiziar des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, im Fazit seines Vortrags klar –, brauchen wir einen verlässlichen Rechtsrahmen. Noch gebe es jedoch diverse offene Rechtsfragen wie beispielsweise 1) den Gebrauchtverkauf von E-Books, der derzeit dem Europäischen Gerichtshof vorliegt, 2) die Onleihe aus Bibliotheken oder E-Lending (mit deutsch ausgesprochenem E), wie er sie gerne nenne, 3) die Preisbindung für E-Books, 4) die Möglichkeit der Umsatzsteuerreduzierung auch für E-Books (besonders bei sogenannten E-Book-Bundles führen die 19% auf E-Books und 7% auf gedruckte Bücher zu Umständlichkeiten), 5) eine klare Definition der Vergriffenheit von E-Books, damit auch hier ein Rechterückruf seitens der Autor_innen möglich wird, oder 6) den Jugendschutz für sogenannte Bückware. Dass für letzteres gerade diskutiert wird, solche Bücher nur zwischen 22 Uhr und 6 Uhr anzubieten, sei leider kein Scherz. Bis Urheberrecht und Co. fit für das digitale Zeitalter sind, wird es also wohl noch etwas dauern.
Es gab weitere besorgte Blicke auf die Digitalisierung. Peter Kraus vom Cleff vom Rowohlt Verlag machte auf den Wandel von Geschäftsmodellen durch E-Books und die Kostenlosmentalität im Netz aufmerksam, indem er Milton Friedman zitierte: „,There is no such thing as a free lunch.‘ Wenn Sie nichts zahlen, dann sind Sie die Ware, Ihre Daten.“ Weil Bücher geeignet sind, Leser_innen zu binden, werden Bücher verschenkt, um letztlich Kühlschränke zu verkaufen. Auf die Frage, ob sie nicht Gefahren für das Schreiben sehe, wenn sich die statische Vorstellung des Buches auflöse, stellte auch Elisabeth Ruge klar, dass sie sogenannten liquid text oder Algorithmus-Romane, die sich an Gefühle und Wissen der jeweiligen Lesenden anpassen, nicht für den richtigen Weg hält. „Man sucht in der Literatur ja das Andere und nicht das, was man immer schon weiß und selbst fühlt.“ Es wird also in Zukunft darum gehen, die neuen Zugänge durch das Digitale zu nutzen, ohne dabei die Eigenheiten der Literatur aufzugeben.
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