Wie ein Abend im Italienischen Kulturinstitut auf tierische Art den Spieltrieb weckte

Die Übersetzer*innen Walter Kögler, Amalia Urbano, Michaela Heissenberger und Martina Kempter gestalten einen anregenden Abend im Italienischen Kulturinstitut Berlin; Foto: Rita Seuss.
Alljährlich am 30. September, dem Todestag des Bibelübersetzers Hieronymus im Jahre 420, wird der Internationale Übersetzertag gefeiert. Zahlreiche Veranstaltungen machen an diesem Tag auf die Bedeutung übersetzter Literatur aufmerksam und zeigen, wer hinter den Übersetzungen steht. Da uns Übersetzungen auch an allen anderen Tagen des Jahres begegnen, mag der Bericht über eine anregende Veranstaltung im Rahmen des diesjährigen Hieronymustags hoffentlich auch mit einem guten Monat Verspätung noch Interesse wecken.
Den Auftakt der Veranstaltungen in Berlin machte in diesem Jahr ein Abend im Italienischen Kulturinstitut unter dem Titel »Ameisenfleiß und Grillengesang«. Gestaltet wurde er vom Berliner Italienischstammtisch, einer Gruppe von Übersetzer*innen aus Berlin und Umgebung, die aus dem Italienischen oder ins Italienische übersetzen. Sie treffen sich regelmäßig, um gemeinsam über schwierige Stellen aus Übersetzungen zu diskutieren, an denen einzelne von ihnen gerade arbeiten. Als Abgesandte der Gruppe saßen auf dem Podium Michaela Heissenberger, Walter Kögler und Amalia Urbano, moderiert von Martina Kempter, ebenfalls Übersetzerin.
Um Einblick in die übersetzerische Arbeit zu geben und das Publikum zum Mitdiskutieren, Mitgrübeln und Mitdichten anzuregen, konzentrierte sich der Abend auf einige vergnügliche Gedichte von Gianni Rodari, Toti Scialoja und – damit auch die Übersetzung vom Deutschen ins Italienische zu ihrem Recht kam – Joachim Ringelnatz. Zwar sei niemand von ihnen auf die Übersetzung von Lyrik spezialisiert, so Walter Kögler, doch ermögliche hoffentlich gerade das einen spielerischen Zugang zum gemeinsamen übersetzerischen Handwerkeln an diesem Abend. Außerdem seien auch in Romane oder andere Prosawerke häufig genug Gedichte oder gereimte Passagen eingebaut, bei denen die Übersetzenden vor ähnlichen Herausforderungen stünden. Hier gibt der Gesamtkontext eines Romans häufig noch zusätzliche Zwänge vor, aber auch Hilfestellung bei der Entscheidung, welche Aspekte des Gedichtes besonders wichtig sind und in der Übersetzung wiedererkennbar sein müssen – z.B. wenn bestimmte Wörter im restlichen Romankontext erneut eine Rolle spielen oder bestimmte Mehrdeutigkeiten auch im restlichen Text leitmotivisch vorkommen. Überhaupt verdichteten sich im Gedicht Fragen, ergänzte Michaela Heissenberger, die sich beim Übersetzen generell stellen: Wie weit muss ich mich beispielsweise vom Original vermeintlich ‚entfernen‘, gerade um ihm gerecht zu werden? „Wie findet man jenseits von Ameisenemsigkeit zur Musik der Grille?“, hieß es dementsprechend im Ankündigungstext für den Abend.
Wie Ameise und Grille es in den Veranstaltungstitel geschafft hatten, wurde klar, als zur Einstimmung des Publikums die Ergebnisse eines Übersetzungsexperiments beim Italienischstammtisch vorgestellt wurden: Während eines Treffens hatten alle Anwesenden drei Minuten Zeit, um eine spontane Übersetzung von Gianni Rodaris Vierzeiler „Alla formica“ („An die Ameise“ oder auch „Auf die Ameise“ oder „Der Ameise“ – schon beim Titel schieden sich die Geister) zu Papier zu bringen. An den Bildschirmen im Veranstaltungssaal des Italienischen Kulturinstituts konnte das Publikum nun beispielhaft die drei sehr unterschiedlichen Versionen von Michaela Heissenberger, Walter Kögler und Martina Kempter vergleichen. Da ich nicht mitgeschrieben habe, hier zur Veranschaulichung, um welches Gedicht es geht, eine andere bei besagtem Experiment entstandene Übersetzung, die mir vorliegt:
Gianni Rodari
Alla formica
Chiedo scusa alla favola antica,
se non mi piace l’avara formica.
Io sto dalla parte della cicala
che il più bel canto non vende, regala.An die Ameise
Entschuldige bitte, alte Fabel,
die geizge Ameise find ich nicht passabel.
Die Grille gefällt mir sehr viel mehr,
denn die schenkt ihren Gesang einfach her.Deutsch von Mirjam Bitter
„Es war schon bemerkenswert, dass bei den so entstandenen sieben oder acht deutschen Gedichtversionen kein einziger Vers, nicht einmal die Reimworte identisch waren“, betonte Walter Kögler. Das macht deutlich, dass es beim Übersetzen generell nicht die eine, gültige Entsprechung des Originals in einer anderen Sprache gibt. Der Zwang der Gedichtform und vor allem die Wahrung des Reims verschärft zwar die Unterschiede, doch auch jeder Prosatext ist in der Zielsprache u.a. von Interpretationen, Schwerpunktsetzungen und Rhythmusgefühl der jeweiligen Übersetzerin abhängig und damit eine Neuschöpfung auf Basis des fremdsprachigen Originaltextes.
Für die Gegenrichtung vom Deutschen ins Italienische wurden zwei italienische Versionen des Gedichts „Die Ameisen“ von Joachim Ringelnatz vorgestellt, das man auf Deutsch bei deutschelyrik.de lesen und sich vorlesen lassen kann. Auch hier war schön zu sehen, wo sich welche*r Übersetzer*in mehr Freiheit erlaubt hatte, um je einen bestimmten anderen Aspekt des Originalgedichtes auch im Italienischen zu bewahren.
Dann durfte das Publikum ran, und zwar an zwei Gedichte von Toti Scialoja, die die Gruppe noch nicht vordiskutiert hatte.
Toti Scialoja
L’uccello nero
salta leggero,
si chiama merlo
senza saperlo.
Toti Scialoja
Se l’ape apatica
posa una natica
sul fior del cardo
diventa un dardo.
Als „gläserne Übersetzerin“ (ein Veranstaltungsformat, das bei der Weltlesebühne häufig zu finden ist, in deren Kooperation der Abend stattfand) tippte Michaela Heissenberger ihre bewusst vorläufigen deutschen Versionen live in den Laptop, projiziert auf die Bildschirme im Saal. Sie überlegte, korrigierte sich und erzählte, wie sie zu dieser ersten Fassung kam. Sie sei zunächst vor allem vom Reim ausgegangen, leben Scialojas Gedichte doch von diesen eingängigen Reimen, und habe sich dann gefreut, nicht nur den „schwarzen Vogel“ auf „Gemogel“ reimen zu können, sondern dass es – zwar nicht im Duden, wohl aber in bestimmten Regionen Deutschlands – auch das Wort „Gebamsel“ gibt, das sich auf „Amsel“ reimt. Beim zweiten Gedicht über die apathische Biene – die im Italienischen eine Pobacke („natica“) auf die Blüte einer Distel („cardo“) setzt und dadurch zum Pfeil („dardo“) wird – hatte sie die schöne Idee, sie im Deutschen zu einer „binären Biene“ zu machen, um die Alliteration zu wahren. Allerdings nahm auch diese Biene, wie schon die Amsel, im Deutschen um des Reimes willen ein doch deutlich anderes Ende als im italienischen Original, setzte sich nämlich mit „trinärer Miene“ auf eine „Schiene“ und „Das war’s mit der Biene.“
Spätestens jetzt war auch im Publikum die Faszination geweckt und sowohl von Laien als auch von anderen, im Publikum versteckten Berufsübersetzer*innen kamen zahlreiche Vorschläge, Denkanstöße, Fragen nach Hilfsmitteln wie Online-Reimwörterbücher etc. Ich warf beispielsweise ein, dass ich natürlich zustimme, in der Form möglichst das kindlich Eingängige zu wahren, dass das Original für mich aber auch durch einen bestimmten inhaltlichen Witz geprägt sei. Den würde ich stärker zu wahren versuchen und dafür, wenn nötig, auf anderer Ebene ‚untreuer‘ werden.

Die Vorahnung der Vögel: Einige Wochen vor der Veranstaltung besuchte dieser Habicht eine Übersetzerin in ihrem Garten; Foto: Martina Kempter.
Beim ersten Gedicht stellte sich mir zum Beispiel die Frage, ob es unbedingt ein Amsel-Gedicht sein muss oder ob der eigentliche Witz des Gedichts nicht darin liegt, dass der Vogel seinen eigenen Namen nicht kennt. Ich würde also verschiedene deutsche Vogelnamen daraufhin prüfen, ob sie sich für einen inhaltlich passenden Reim eignen, spontan fiel mir z.B. ein Reim wie „Er heißt Habicht/ und weiß es nicht“ ein. Dann müsse natürlich auch der Anfang des Gedichts eher Eigenschaften dieses anderen Vogels plastisch machen, statt von einem leicht hüpfenden schwarzen Vogel zu erzählen. Angeregt von dem interessanten Abend, konkretisierte sich auf dem Heimweg beim Radeln durch die frische Luft meine Ad-hoc-Idee mit dem Habicht-Gedicht dann wie folgt:
Erhaben stolziert er
In seinem Gefieder
Er nennt sich Habicht
Und weiß das gar nicht.
Die eigentliche Herausforderung bliebe natürlich, möglichst die (aus meiner Sicht) inhaltliche Pointe zu wahren und dennoch ein Amsel-Gedicht zu schreiben. Mein Ergebnis dazu war aber trotz frischer Luft eher hölzern:
Die Federn schwarz glänzend
Hüpft sie tänzelnd
Amsel heißt sie
Nichts davon weiß sie.
Bei dem Bienengedicht wiederum lag für mich der inhaltliche Reiz im Umschlag der Apathie in eine pfeilschnelle Bewegung durch die Begegnung mit der Distel. Um das zu wahren, würde ich gegebenenfalls lieber das konkrete Reimschema AABB opfern und etwas schreiben wie:
Wenn aber eine benommene Biene
sich mit dem Po in die Disteln setzt,
wirkt sie plötzlich irgendwie gehetzt.
Den Spieltrieb geweckt hatte der Abend ganz offensichtlich auch beim Direktor des Italienischen Kulturinstituts Prof. Dr. Luigi Reitani. Als er die Veranstaltung offiziell beendete, gab er zum Abschluss seine eigene, überzeugende italienische Version des Ringelnatz’schen Ameisen-Gedichtes zum Besten, die er im Laufe des Abends verfasst haben musste. Bei ihm wollten die Ameisen – statt von Hamburg nach Australien – von Turin nach Berlin reisen.
Fazit: Es lebe die künstlerische Freiheit – auch wenn dabei vielleicht ein paar Ameisen gegrillt werden, Hauptsache das anschließend servierte Gericht bzw. Gedicht schmeckt!
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