Im Literarischen Colloquium Berlin werden regelmäßig eintägige Fortbildungen für Übersetzer*innen und andere Sprachinteressierte angeboten. Ging es im September 2019 um diskriminierungssensibles Schreiben und Übersetzen (vgl. meinen Bericht hier im Blog), stand als nächstes das Thema Sprachwandel und -lenkung in allgemeinerer Form auf dem Programm. Als Referentin eingeladen war dazu Ulla Fix, emeritierte Linguistik-Professorin der Uni Leipzig, die ihre linguistischen Forschungsfragen immer wieder auch an literarische Texte gerichtet hat (vgl. Publikationsliste auf ihrer Homepage). Unter dem Vortragstitel »Was trauen und was muten wir den Wörtern zu?«, gab sie einen Überblick über verschiedene Arten der Sprachlenkung durch die »unsichtbare«, die »sichtbare« und die »individuelle Hand«.
Sprachlenkung durch die »unsichtbare Hand« – Handeln nach gemeinsamen Maximen
Mit der Metapher der »unsichtbaren Hand« ging es zum einen um die im Hintergrund wirkenden Regeln des Sprachsystems: beispielsweise, dass wir Präpositionen mit dem richtigen Kasus verwenden, die Verknüpfungsleistung von Konjunktionen beachten und Tempora richtig einsetzen. Zum anderen wirken auch außersprachliche Konventionen nach dem Prinzip der kommunikativen Angemessenheit, z.B. dass wir umgangssprachliche Wörter nicht in offiziellen Situationen verwenden, Stilebenen beachten, die Anredeformen »Sie« und »du« nach den geltenden Gepflogenheiten einsetzen. Wenn sich hier Konventionen ändern, müssen wir plötzlich bewusst Entscheidungen treffen, mittlerweile kann in offiziellen Situationen schließlich manchmal auch das Du durchaus angemessen sein.
Die Metapher der »unsichtbaren Hand« stammt ursprünglich von Adam Smith in seiner Schrift Der Wohlstand der Nationen von 1812. Er beschreibt darin, wie die Kaufleute zwar auf ihr eigenes Wohl bedacht waren, dabei aber das Wohl der Gesellschaft förderten. Die Metapher besagt also, dass etwas von allgemeinem Wohl auch ohne Absicht erzeugt werden kann, nämlich durch nicht verabredetes, aber doch gemeinsames Handeln nach bestimmten Regeln.
Der Sprachwissenschaftler Rudi Keller hat diese Metapher auf Sprachgebrauch angewandt: Sprachwandel ist weder geplant, noch organisch gewachsen. Vielmehr geschieht er durch gemeinsames, nicht verabredetes Handeln, das einer gemeinsamen Maxime folgt. Keller verwendet dafür auch das sehr anschauliche Bild des Trampelpfades:
»Über die Rasenfläche unserer Universität zieht sich ein Netz von Trampelpfaden. Dieses Netz von Pfaden ist denkbar klug, ökonomisch und durchdacht ›angelegt‹. Ganz offensichtlich ist seine Struktur sinnreicher als die Struktur der von den Architekten geplanten Pflasterwege. […] Die ›Intelligenz‹ des Systems der Trampelpfade ist nicht der Intelligenz seiner Erzeuger zu verdanken, sondern deren Faulheit.« (Keller: Sprachwandel. Tübingen/Basel 1994, S. 99 f.)
Alle Beteiligten folgen hier einem gemeinsamen Prinzip, nämlich dem der Faulheit bzw. der Effizienz.
Im Bereich der Lexik ist es generell schwerer, die Sprachlenkung zu beschreiben, als in der Syntax, weil hier keine Wenn-Dann-Regeln und nur selten Eins-zu-eins-Beziehungen herrschen. Fast immer muss man sich zwischen sehr vielen Ausdrucksweisen entscheiden. Dennoch ist Ulla Fix aufgefallen, dass beispielsweise das Wort »grinsen« in jüngerer Zeit auch in positiven Kontexten auftaucht, wo früher »lächeln« gestanden hätte. Niemand hat angeordnet, man solle statt »lächeln« nun »grinsen« verwenden, »grinsen« sei jetzt neutral oder positiv. Die Frage ist also: Wie lautet hier die Maxime, der alle folgen?
Zieht man andere Beispiele mit in Betracht wie die Verwendung von »Knast« statt »Haft« oder »schmeißen« statt »werfen« oder Sätze wie »da laufen Hunde auf der Straße rum« (alle in der ARD verwendet), steht dahinter offenbar die Maxime der Lockerheit: »Rede so, dass jeder sich angesprochen fühlt. Halte die sprachlichen und sozialen Barrieren niedrig.«
Die »individuelle Hand« – das Prinzip der Originalität
Der oder die Einzelne kann durchaus erfolgreich Regelbruch begehen, was Fix als die »individuelle Hand« bezeichnete. Das geschieht vor allem in der Literatur, die dann dem Prinzip der Originalität folgt, insbesondere in Gedichten, wo das einzelne Wort die Substanz des Textes bildet. Man kann von der Wortbedeutung abweichen, wenn man geneigte Leser*innen findet, die gewillt sind, sich das zu erschließen. So verwende Uwe Kolbe in den folgenden Versen aus einem seiner Gedichte etwa das Wort »Zeitunglesen« in einer anderen Bedeutung:
»Sinn Sinnlichkeit Widersinn
Lüge Lüglichkeit Notlüge
Wahrheit Wahrhaftigkeit Zeitunglesen
Macht Mächtigkeit Ohnmacht
Glaube Beglaubigung Hoffnungslosigkeit.«
(Uwe Kolbe: Hineingeboren. Gedichte 1975–1979. Berlin/Weimar)
Auch hier ist aber die Kenntnis des »Normalen« der notwendige Hintergrund, um das Abweichende zu erkennen. Indem man Regeln bewusst bricht, hat man ihre Existenz immer schon bejaht.
Die »sichtbare Hand« – von staatlicher Zensur bis zur gezielten Suche nach angemessenerer Benennung veränderter Wirklichkeiten
Mit der Metapher der »sichtbaren Hand«, die Fix analog zur »unsichtbaren Hand« selbst gebildet hat, ging es schließlich um die bewusst angestrebte Lenkung durch Machthabende, Institutionen und Gruppen. Insbesondere in totalitären Systemen werden Sprachregeln von oben verordnet, etwa bestimmte Wörter verboten.
Als Beispiel nannte Fix, die sich viel mit deutsch-deutscher Kommunikation sowie Sprache und Literatur in der DDR beschäftigt hat, dass das Wort »Pazifismus« in Wörterbüchern der DDR nicht auftauchte oder wenn doch, dann als bürgerlich, reaktionär bezeichnet wurde. Es konnte also nicht wirklich verwendet werden. Auch der Wortgebrauch von »Demokratie« war in der Bundesrepublik ein anderer als in der DDR. Die Medienlenkung in DDR erfolgte direkt durch das ZK, die vorgeschriebene Weltanschauung war auch mit deren Terminologie und vorgegebenen Losungen versehen. Man konnte nicht öffentlich in anderen philosophischen Richtungen denken.
Auch in demokratischen Systemen können gesellschaftliche Interessengemeinschaften den Sprachgebrauch beeinflussen, sofern sie einen gewissen Einfluss haben. Stilratgebern und Sprachgesellschaften mit langer Tradition geht es vor allem um Sprachkritik und Sprachpflege nach dem Prinzip der Sprachrichtigkeit, also um das Befolgen innersprachlicher Regeln. Bei anderen, auf politischen Wandel ausgerichteten Interessengruppen geht es stärker um das Bestreben, den richtigen Begriff zu finden, neue Begriffe zu prägen oder negative Begriffe zu besetzen und mit anderer Bedeutung zu belegen. Hierunter fasste Fix auch das »Phänomen politischer Korrektheit« und gendergerechten Sprachgebrauch.
Ausführlich legte Fix ihre politischen und sprachwissenschaftlichen Bedenken dar, etwa dass die Begriffskette »schwererziehbare Kinder, verhaltensgestörte Kinder, verhaltensauffällige Kinder, verhaltensoriginelle Kinder« zwar je eine veränderte Haltung diesen Kindern gegenüber zeige, dass sich allein mit der Wahl der Benennung aber die Inhalte nicht verändern. Sofern sich diese nicht ausreichend mit verändern, wird im Laufe der Zeit auch das Ersatzwort wieder negativ konnotiert. Was die Bemühungen um gendergerechte Sprache angehen, folge sie selbst der Grundregel des Philosophen Peter Cassirer: »Was nicht gesagt wird, ist normal, konstant, selbstverständlich. Gesagt wird nur, was nicht selbstverständlich ist.« Dass Fix sich in einer Form des generischen Maskulinums durchaus selbstverständlich mitgemeint fühlt, mag auch an ihrer Ost-Sozialisation liegen, wie sie in der anschließenden Diskussion einräumte: Frauen im Osten, die in der DDR gelebt haben, hatten weniger Leidensdruck in Bezug auf Geschlecht. Das Grundgefühl, dass jede Frau alles lernen kann, was sie will, war vorhanden, auch wenn in der Regierung hauptsächlich Männer saßen. Sie hatten eher Leidensdruck aus politischen Gründen und deshalb andere Schwerpunkte. Nachdem sie sich mit der Frauenbewegung in der Bundesrepublik beschäftigt und erfahren habe, dass Frauen hier früher kein eigenes Bankkonto eröffnen konnten, hat sie großen Respekt vor dem, was da geschafft wurde.
Die auch im Vortrag von Anatol Stefanowitsch im September erwähnte Entscheidung der Uni Leipzig für das generische Femininum ist Ulla Fix zufolge, die der betreffenden Senatssitzung beiwohnte, »nach der Maxime der Ermüdung« nach ewig langer Sitzung gefällt worden. Entsprechend lautete ihre Prognose, dass auch der Sprachwandel hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in einem gewissen Rahmen bleiben werde, weil die Maxime der Ökonomie bzw. der Faulheit wirksam werde:
»Alles, was zu umständlich ist, wird wegfallen, das Thema wird abflauen, es werden Lösungen im Sinne der Praktikabilität gefunden, ohne dass der berechtigte Anlass verloren geht.«
Ausblick
Spannender als eine Wiederholung der im September in diesem Rahmen sowie auf der Frankfurter Buchmesse bereits geführten Debatte um »politische Korrektheit« hätte ich persönlich eine linguistische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Hassreden gefunden. Dieses führte Fix als weiteres wichtiges Thema an, das nochmal einen eigenen Vortrag füllen würde. Hier übe der Einzelne Sprachgewalt aus; als Gruppe wirken diese Einzelnen aber doch zusammen und schaffen eine gesellschaftlich gefährliche Lage.
Auch Gabi Leupolds Frage, ob es in der Linguistik Forschung darüber gebe, wie erfolgreich Versuche sind, die Sprache zu lenken, und wieviel in der Realität davon übrigbleibe, wurde leider nicht beantwortet. Fix verwies nur auf Forschungen zu Nationalsozialismus und DDR, etwa Wörterbücher über die Sprache des Nationalsozialismus und neuerdings Untersuchungen zum Sprachgebrauch: Wie sind diese Wörter verwendet worden? Monika Schwarz’ Arbeiten zur Sprache öffentlicher und halböffentlicher Briefe an israelische Botschaften, in denen heute Judenhass ausgedrückt wird, wiederum setzen diese in Zusammenhang mit der Sprache des Nationalsozialismus.
In einer der beiden nachmittäglichen Werkstätten bot Gabi Leupold dann einen Lektüreparcours durch zwei Jahrhunderte an: Sie hatte unterschiedliche Textausschnitte aus Wörterbüchern, Enzyklopädien, Gesprächen und Zeitungsausschnitten zusammengestellt, die den Bedeutungswandel des Wortes »bürgerlich« anschaulich machen – auch das ein sehr aktuelles politisches Thema angesichts einer rechtsextremen Partei, die sich selbst als »bürgerliche Kraft« bezeichnet.
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