Auf der Fortbildung zum Thema Sprachwandel im Literarischen Colloqium Berlin, von der ich zuletzt berichtete, beschäftigte sich ein Vortrag und eine Werkstatt mit dem Thema »Leichte Sprache« als ein Produkt bewusster Sprachlenkung. Als Vortragende eingeladen war die Linguistin Bettina M. Bock, die neben den Themen Inklusion, Schulbuch, DDR (z.B. Publikationen zum Sprachgebrauch von IM), auch zu Leichter Sprache geforscht und das Buch Leichte Sprache – kein Regelwerk herausgegeben hat (Volltext als PDF-Download bei der Universität Leipzig).
»Leichte Sprache« – was ist das überhaupt?

»Das macht die Bundes-Bank. Erklärt in Leichter Sprache«
Die Leichte Sprache ist eine künstlich geschaffene Varietät des Deutschen, die intuitiv in der Praxis entwickelt wurde. Die benannte Zielgruppe ist durchaus heterogen: Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung/ Menschen mit Lernschwierigkeiten, Deutschlernende, Menschen mit geringen Lesekompetenzen, Jugendliche mit geringer Bildung, Demenzkranke …
Rechtlich verankert ist sie in der UN-Behindertenrechtskonvention, im Behindertengleichstellungsgesetz und der BITV 2.0. Darin gibt es jeweils inhaltliche Regelungen, wie Leichte Sprache umzusetzen ist. Texte in Leichter Sprache gibt es in nahezu allen Kommunikationsbereichen: Medien, Politik, Verwaltung, Kirche, Lehr- und Unterrichtsmaterialien, darunter auch literarische Texte.
Der Regelkatalog des Netzwerks Leichte Sprache beinhaltet etwa:
- Machen Sie viele Absätze und Überschriften.
- Benutzen Sie Verben.
- Benutzen Sie bekannte Wörter.
- Verzichten Sie auf Fach-Wörter und Fremd-Wörter.
- Erklären Sie schwere Wörter.
Deutlich ausführlichere Regeln finden sich auf www.leichte-sprache.org/die-regeln.
Funktioniert das tatsächlich?
Mittlerweile gibt es auch linguistisch fundierte Regelkataloge/ Empfehlungen, ein Desiderat bleibt aber weiterhin die empirische Fundierung: Funktionieren diese Regeln wirklich?

EU-Richtlinien für leicht lesbare Informationen
Strittig ist laut Bock außerdem die starre Regelbasierung selbst. Auch im wissenschaftlichen Diskurs wird viel von Standardisierung und Vereinheitlichung von Regeln gesprochen. Aus pragmatisch linguistischer Sicht müsste man aber eigentlich Kontext und Angemessenheit in bestimmten Verwendungssituationen betonen. Statt einer »regulierten Varietät« bräuchte man eine »funktionale Varietät«. Schon in der EU-Richtlinie für leichtlesbare Informationen ging es um einen flexiblen Umgang mit Regeln. Die Regeln bilden den Orientierungsrahmen. Anschließend ist zu überlegen, wie man sie angemessen anwendet, damit der Text sowohl zu den Adressat*innen passt als auch zur Funktion, die der Text erfüllen soll. Er sollte sachlich-inhaltlich angemessen sein, die voraussichtliche Lesesituation mit einbeziehen und muss auch zur Senderin passen. Das folgende Schaubild ist vor allem für Sachtexte relevant, für literarische Texte gäbe es ggf. nochmal andere Überlegungen, so die Referentin:

Angemessenheitsfaktoren für Leichte Sprache nach Bock 2019
Leichte Sprache aus empirischer Sicht
Diese Ideen hat Bettina M. Bock in der Publikation Leichte Sprache. Kein Regelwerk. Sprachwissenschaftliche Ergebnisse und Praxisempfehlungen aus dem LeiSA-Projekt verfolgt. LeiSA steht für »Leichte Sprache im Arbeitsleben«; es handelte sich um eine qualitative Studie, die mit 30 Menschen mit sog. geistiger Behinderung und 20 funktionalen Analphabet*innen als Proband*innen arbeitete. Diese hatten sehr unterschiedliche Lesekompetenzen (nach Lea-Niveau 2–5). Es gibt auch bei Menschen mit sog. geistiger Behinderung sehr gute Leser*innen (ab Level 4 gilt man schon nicht mehr als leseschwach).
Individuelle Vertrautheit statt allgemeiner Häufigkeit
Um den Wortschatz zu studieren, kam in der Studie ein Lücken-Test zum Einsatz. Die Proband*innen sollten Wörter unterstreichen, die in die Lücke passen. Die Hypothese war, dass Wörter, die allgemein häufiger vorkommen, auch häufiger ausgewählt werden. Das wäre ein Beleg dafür, dass häufige Wörter häufiger bekannt sind. Bei den Lückentests waren lange Wörter nicht extra mit Punkten oder Trennstrichen getrennt. Außerdem wurden auch Fachwörter verwendet, z.B. »anreißen«, obwohl das nicht einmal die Durchführenden der Studie alle kannten.

Lückentest zur Erfassung des Wortschatzes
Heraus kam dabei beispielsweise, dass das Verb »erlauben« von 93%, »genehmigen« nur von 80% der Proband*innen ausgewählt wurde – beide aber häufig. Auch schwierige Wörter wie »Meinungsverschiedenheit« (85%) und »kostspielig« (78%) waren unter den Proband*innen relativ bekannt. »Information« (90%) ist offiziell ein Fremdwort, aber offensichtlich trotzdem bekannt. Weitere Wörter, die in Äußerungen von Proband*innen während der Studie vorkamen waren etwa: Kündigungsschutz, beinhaltet, aufgrund, herabwürdigen, aushändigen, in der Textilbranche tätig sind, Simulation.
Insgesamt konnten keine eindeutigen Zusammenhänge von Frequenz im allgemeinen Wortschatz zur Bekanntheit bei einem Individuum festgestellt werden. Es geht nämlich weniger um Frequenz als um Vertrautheit, und letztere ist abhängig von Sozialisation, Beruf, Interessen … Vertrautheit ist damit wenig »kontrollierbar« und nicht durch allgemeine Regeln aufzufangen.

Schaubild Häufigkeit im allgemeinen Wortschatz vs. Häufigkeit bei den Proband*innen
Textsortenabhängige Regeln und Typografie

Textsortenverständnis und Makrotypografie
Eine Leerstelle in den Regeln und der bisherigen Praxis ist die Frage nach der Textsorte und textsortenabhängiger Regeln beispielsweise für die Makrotypografie. Steckt dahinter die Annahme, dass Textsorten für die Zielgruppe nicht relevant sind, dass der Verstehensprozess bei den Adressat*innen generell »anders« abläuft? Neben einer Studie zum Textverständnis, auf die Bock nicht genauer einging, wurde beim LeiSA-Projekt auch eine zur grafischen Gestaltung von Texten durchgeführt. Mit Blick auf Texte in russischer oder arabischer Sprache, deren Inhalt die Proband*innen nicht lesen konnten, wurde allein anhand der Gestaltung Fragen gestellt wie: »In dem Text kann man Nachrichten lesen: richtig – falsch – weiß nicht«.
Das Ergebnis: Die Proband*innen haben Textsortenwissen und durchaus konventionelle Vorstellungen davon, wie Textsorten gestaltet sind. Ihre Assoziation bei der typischen, bisher textsortenübergreifenden Gestaltung von Texten in Leichter Sprache ist: Es handelt sich um ein Infoplakat beim Arzt oder in der Schule.
Aus diesen Studienergebnissen folgt die Frage: Auf welche konventionellen Mittel sollte Leichte Sprache zurückgreifen, um Textsortenverständnis zu fördern?
Leichte Sprache – ein Beitrag zur Sprachkultur?
Nach Nina Janich 2004 ist unter »Sprachkultur« das Kommunikationspotenzial, die kommunikative Leistungsfähigkeit einer Sprache zu verstehen. Demgegenüber bezeichnet »Sprachkultiviertheit« sprecher*innenbezogene Kompetenz, Willen und Fähigkeit, sich sprachkultiviert zu verhalten. So verstanden ist ein breites Varietätensystem relevant für lebendige Kultursprachen.
Wenn Leichte Sprache tatsächlich funktional ist, also so realisiert, dass für die Zielgruppe wirklich mehr demokratische Teilhabe möglich ist, dann bereichert Leichte Sprache das Varietätensystem des Deutsche und erhöht die kommunikative Leistungsfähigkeit der Sprache. Empirische Studien bestätigen teilweise die bessere Verständlichkeit von Texten in Leichter Sprache, sehen aber auch Punkte, die noch verbesserungswürdig sind.
Dazu kommt der sozialsymbolische Wert, und dabei geht es sowohl um die Wahrnehmung innerhalb der Zielgruppe als auch um die Wahrnehmung im Mehrheitsdiskurs. Hier war auffällig, dass sich nicht alle Proband*innen der Studie auf Leichte Sprache einlassen wollten, weil sie als Abweichung wahrgenommen wurde. Es ist also darauf zu achten, dass Leichte Sprache nicht sekundär zu Stigmatisierung führt. Wenn es angemessen umgesetzt ist, ist es jedoch ein Verdienst, das Thema Barrierefreiheit und die Zielgruppe sichtbarer zu machen – sowie allgemein dem Thema Verständlichkeit erneut Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Leichte Sprache bei Behörden und in der Literatur – Stimmen aus der anschließenden Diskussion

Rot∙käppchen
Insbesondere die Bearbeitung des Märchens Rotkäppchen, die im Vortrag als eines mehrerer Beispiele für die Textsortenbandbreite sowie die übliche grafische Aufbereitung von Texten in Leichter Sprache auf einer Folie aufgetaucht war, sorgte anschließend für Meldungen aus dem Publikum. Zum einen sei auffällig, dass der Titel bis auf die grafische Unterteilung so belassen wurde und die Übersetzer – die auch noch andere Märchen in Leichte Sprache übersetzt haben – weitere antiquierte Ausdrücke übernommen haben, die sie offenbar für Märchen wichtig fanden. Das passt zum Fokus auf Vertrautheit statt Frequenz: Die Übersetzung in Leichte Sprache orientiert sich an für die Textsorte Konventionellem, weil die Lesenden damit durch andere Texte derselben Textsorte vertraut sein dürften, mit denen die Zielgruppe ja durchaus in Berührung kommt.
»Es war einmal. So fangen Märchen an.
Ein Märchen ist eine sehr alte Geschichte.
Dieses Märche heißt Rot∙käppchen.
Das Märchen geht so:Ein Mädchen hat eine Groß∙mutter.
Die Groß∙mutter schenkt dem Mädchen ein rotes Käppchen.
Ein Käppchen ist eine kleine Mütze.
Das Mädchen mag das rote Käppchen sehr.
Und will das rote Käppchen immer tragen.
Deshalb heißt das Mädchen Rot∙käppchen.«
Zum anderen fielen diverse handwerkliche Ungereimtheiten auf. Im Fortgang des hier anzitierten Textes, kommt etwa plötzlich die Formulierung »soll wieder zu Kräften kommen«. Diese fällt komplett aus dem stilistischen Rahmen. Da diese Übersetzungen von Sprachwissenschaftler*innen stammen, ist es nach Bock erstaunlich, dass sie so ein unreflektiertes Zielgruppen-Verständnis haben. Von einer Berufsübersetzerin im Publikum kam daher der Vorschlag, dass wir unsere Erfahrungen auch linguistischen Bearbeiter*innen von Märchen anbieten – analog zu einer bereits erfolgten Werkstatt zwischen Bibelrevidierenden der EKD und Literaturübersetzer*innen.
Eine weitere kritische Frage war, inwiefern sich die Abkopplung nicht verstärke, wenn die Zielgruppe nur noch mit solchen Texten konfrontiert wird. Reagiert die Zielgruppe nicht auch auf emotionale und klangliche Muster einer Sprache wie Wortwiederholungen? Und wie oft geraten wir im Alltag an Wörter, die wir nicht verstehen, ohne dass es für uns ein Problem darstellt. Außerdem fürchtete ein Diskutant, dass über eine Vereinfachung von Texten, z.B. von Behörden für mehr Bürgernähe, die Leichte Sprache negativen Einfluss auf andere Texte habe, und das sei in erkenntnistheoretischer Hinsicht bedenklich, weil Sprache ja einen Zugang zur Welt biete.
Bock meinte, dass es von der Aufmerksamkeit der Linguistik her vermutlich nur eine Frage der Reihenfolge sei, was in Bezug auf Leichte Sprache untersucht werde. Sie haben sich eben erst einmal auf Arbeitstexte konzentriert, wo es mit der Erkenntnistheorie noch nicht so wichtig sei. Bisher habe sie zudem nicht den Eindruck, dass die Regeln der Leichten Sprache Einfluss auf andere Texte haben. Die Vereinfachungsbestrebungen anderer Texte folgen anderen Konzepten. Bocks These: Dazu ist die Leichte Sprache doch zu markiert, leidet unter einer leicht negativen Stigmatisierung.
Andere Publikumsstimmen sprachen sich wiederum stark dafür aus, dass insbesondere Behördentexte für alle verständlicher werden sollten. Wie eine Diskutantin anmerkte, wären beispielsweise in den Niederlanden allgemeine Texte viel verständlicher. In Deutschland wird immer alles rechtlich abgesichert mit Verweis auf irgendwelche Gesetze, deshalb ist es hier überhaupt nötig, es zusätzlich in Leichter Sprache anzubieten, und diese Version gilt dann immer nur als Begleittext, der nicht rechtlich bindend ist. Auch in Finnland sei es rechtlich möglich, das einfacher zu gestalten, ergänzte eine weitere Diskutantin.
In Bezug auf die verstärkte Abkopplung der Zielgruppe, zitierte Evelyn Passet – die am Nachmittag eine Werkstatt zu Leichter bzw. einfacher Sprache anbot – aus einem Zeitungsartikel von Kristof Magnussen: Dieser benennt die Gefahr, wenn sich Leichte Sprache als kleinster gemeinsamer Nenner in der Schule durchsetzt. Denn dann sind diejenigen, die zuhause differenziertere Sprache (kennen)lernen, noch mehr im Vorteil. Es spricht aber nichts dagegen, auch Regeln für Leichte Sprache zu lernen und diese, wie bei Dogma im Film, als Inspirationsquelle zu nutzen. Für ein Projekt des Literaturhauses Frankfurt schrieb Magnusson selbst zwei Kurzgeschichten in einfacher Sprache – teilweise gewöhnungsbedürftig, aber durchaus lesenswert, so der Tenor in der nachmittäglichen Werkstatt zum Text (mehr zum Projekt Literatur in Einfacher Sprache: LiES! auf der Website des Literaturhauses Frankfurt).
Ulla Fix, die am Vormittag einen allgemeinen Vortrag über Sprachwandel gehalten hatte (vgl. meinen Bericht), regte an, dass sich für das Thema Leichte Sprache mehr Disziplinen zusammenfinden sollten, z.B. die Sprechwissenschaft und deren Erkenntnisse zum Rhythmus von Sprache. Auch Reime seien sicher eher hilfreich als hinderlich, und das Phänomen des Ungewohnten im literarischen Text könnte auch für die Zielgruppe der Leichten Sprache einen Effekt haben. Linguist*innen, Didaktiker*innen und Designer*innen müssten noch in diese Richtung blicken.
In Regelwerken heiße es immer, ergänzte Bock, dass man Ironie und Spielerisches vermeiden solle. In den Treffen mit ihren Proband*innen herrschte dagegen ständig ein spielerischer und zuweilen auch ironischer Umgang. Andere Beispiele als die Rotkäppchen-Adaption, insbesondere solche, die von vorneherein in Leichter Sprache geschrieben sind, z.B. von Uwe Lubrich, seien zum Glück stilistisch mehr auf literarische Schönheit ausgerichtet. Auch bei der sogenannten »einfachen Sprache« (für andere Zielgruppen und ohne feste Regeln) gebe es bessere Beispiele, weil diese flexiblere Lösungen sucht und das Regelwerk nicht ganz so den Blick verstelle.
Ulla Fix stellte die Frage, was wir davon halten würden, wenn eine Kurzgeschichte von Robert Walser in Leichte Sprache übersetzt würde? Ob ein literarischer Text ohne seine ursprüngliche literarische Form noch dieser Text sei? Grundsätzlich standen die anwesenden Übersetzer*innen auch Übersetzungen in Leichte Sprache sehr offen gegenüber. Es gibt ja auch Bearbeitungen für Kinder, Neuausgaben sprachlich angestaubter älterer literarischer Texte und Ähnliches. Auch unsere Übersetzungen aus anderen Sprachen ins Deutsche sind ja jeweils Interpretationen. Grundsätzlich spricht also nichts dagegen. Man sollte nur das Ästhetische nicht aus dem Blick verlieren.
Für jeden einzelnen Fall, die jeweilige Funktion und die konkrete Zielgruppe ist wohl zu überlegen, ob man wirklich eine vollständige Übersetzung in Leichte Sprache will, die dann durch die Erklärungen und Kontextualisierungen sehr viel länger ist als das Original, oder ob vielleicht eine Zusammenfassung angebrachter ist. Manchmal ist es vielleicht auch sinnvoller, Literatur und ästhetische Erfahrung eher sinnlich zugänglich zu machen, als den Ansatz zu verfolgen, wirklich alles über Sprache lösen zu müssen, gerade für diejenigen, bei denen Sprache eben nicht der beste Zugang ist. Es gebe aber auch schon sehr gelungene literarische Übersetzungen in Leichte Sprache, etwa von Abbas Khiders Ohrfeige oder von Tschick.
In jedem Fall ist es das Grundrecht eines Menschen, einen Text allein lesen zu dürfen. Wenn man dabei helfen kann, dann ist das eine gute Sache. Was die Regeln für Leichte Sprache angeht, so sollte insbesondere die letzte beachtet werden: »Alle Texte werden geprüft« – und zwar von der Zielgruppe selbst:
»Menschen mit Lern-Schwierigkeiten
sind Fach-Leute.
Das sind die Prüfer und Prüferinnen
für Leichte Sprache.«
(Quelle: PDF auf leichte-sprache.org)
Wer selbst keinen Kontakt zur Zielgruppe hat, findet Agenturen, die das Prüfen koordinieren.
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