Wenn seit dem Ausbruch der Finanzkrise zunehmend davon die Rede ist, dass man die „Märkte beruhigen“ müsse, so weiß man nicht immer genau, ob da von einem fiebrigen Patienten die Rede ist, der durch ständige Telefonate, Krisensitzungen und Beschlüsse von Regierungen umsorgt und getröstet werden muss; oder von einem wütenden Drachen mit giftigem Odem, der ein ganzes Königreich zu verwüsten droht, wenn er nicht regelmäßig eine Jungfrau zu Fressen bekommt. Wer den Job erledigen muss, ist allerdings klar: „Die Politik muss die Märkte beruhigen.“
Aber wollen „die Märkte“ überhaupt beruhigt werden? Eigentlich finden sie es ja ganz „Super, wenn die Börsen schwanken“. Wetten auf fallende Kurse ermöglichen immerhin satte Gewinne. Gegen eine Regulierung der Finanzmärkte, z.B. durch eine Finanztransaktionssteuer, regen sich jedenfalls erhebliche Widerstände. Die Rede von der Beruhigung der Märkte enthält damit eine doppelte Irreführung. Denn sie täuscht darüber hinweg, wer oder was „die Märkte“ überhaupt sind. Es sind ja im wesentlichen Spekulanten und keine volkswirtschaftlichen Größen. Letztlich ist die Phrase nur ein Euphemismus für das Dilemma, dass man den Einfluss der Spekulation auf die Volkswirtschaft beschränken müsste, aber nicht kann. Doch befinden sich auch die Märkte in einem Dilemma. Denn der Bankrott ganzer Volkswirtschaften kann schnell den Bankrott ganzer Banken nach sich ziehen. Die dann ihrerseits wieder gerettet werden müssen – durch den Rettungsschirm, für den die Staaten wiederum Schulden auf dem Finanzmarkt aufnehmen (hier: Deutschlands Schuldenuhr). In dem Dilemma bekundet sich also so etwas wie ein „Gleichgewicht des Schreckens“.
Kalter Krieg der Schulden
Während des Kalten Krieges nannte man so das Atompatt zwischen den Nuklearmächten. Im Englischen heißt das „Gleichgewicht des Schreckens“ mutual assured destruction, also die „wechselseitige zugesicherte Zerstörung“, kurz: mad, was eben auch „verrückt“ oder „wahnsinnig“ heißt. Hinter dem Wahnsinn der atomaren Abschreckung stand natürlich eine rationale Logik: Eine Nuklearmacht hielt die andere durch eine ultimative Drohung vor dem Erstschlag ab, indem man sich wechselseitig einen alles vernichtenden Zweitschlag zusicherte. Für dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ hatte der Mathematiker und Nobelpreisträger John F. Nash (bekannt durch den Spielfilm A Beautiful Mind) ein spieltheoretisches Modell entwickelt, das sogenannte „Nash-Gleichgewicht“ oder Nash equilibrium. Eine einseitige Aufkündigung dieses Gleichgewichts hätte das absolute Scheitern beider Parteien zur Folge gehabt. So sind sie gerade durch ihre Feindschaft zu einer unfreiwilligen Kooperation gezwungen.
Durch den Zusammenbruch des Ostblocks endete der Kalte Krieg und die Westmächte gelten als dessen Sieger. Denn die westlichen Demokratien haben sich als diejenigen Volkswirtschaften erwiesen, die den Rüstungswettlauf länger ökonomisch durchhalten konnten. Betrachtet man heute indessen den Stand der weltweiten Staatsverschuldung, könnte man sich fragen, „wer den Kalten Krieg tatsächlich verloren hat“ (Olaf Held). Nach dem weltweiten Sieg des Kapitalismus und seiner Krisen scheint sich das Gleichgewicht des Schreckens einfach nur auf eine andere Ebene verlagert zu haben. (mehr …)