Zu den überdrehten Debatten darüber, ob Judith Butler den Adorno-Preis erhalten sollte, habe ich nichts beizutragen, zu Diskussionen über ‚jüdischen Selbsthass‘ sowieso nicht. Als ich jedoch gerade aus ganz anderem Anlass noch einmal ihr 2009 erschienenes Frames of War durchblätterte, kamen mir einige Gedanken über den Zusammenhang zwischen Butlers theoretischen Schriften, welche ihr den Preis einbrachten, und ihren politischen (Fehl-)Einschätzungen, welche die Proteste gegen die Preisverleihung verursachten.
Dass Butlers Haltung zu internationaler Politik insgesamt und zum Nahostkonflikt im Besonderen von himmelschreienden Doppelstandards geprägt ist, ist offenkundig. Ihre Kritik richtet sich beinahe exklusiv gegen Israel und die USA; andere Akteure, deren Ziele, Strategien und Taktiken der Emanzipation des Menschen weitaus ferner stehen, werden kaum je negativ erwähnt. Diese Einseitigkeit, die ja ein unter linken Intellektuellen sehr weit verbreitetes Phänomen ist, lässt sich nicht ohne weiteres als marginale Schrulle einer großen Philosophin abtun, wie Micha Brumlik es vor einiger Zeit tat. Vielmehr stehen sie in einem direkten Zusammenhang zu zwei zentralen Elementen des Politikverständnisses in ihren jüngeren Schriften.
Das erste dieser zwei Elemente ist Butlers moralisierende Staatskritik. In Frames of War entwirft sie eine Ethik der Gewaltlosigkeit. Diese fußt auf der Idee, dass das Überleben eines jeden Menschen prekär ist und vom Handeln anderer Menschen abhängt. Daraus leitet Butler relativ umstandslos die ethische Notwendigkeit ab, alles Leben in seiner Prekarität anzuerkennen, es zu schützen und sich generell gewaltfrei zu verhalten. Dieser Universalismus ist Butlers Leitschnur für normative Urteile. Gut ist für Butler, wenn das Leben aller Menschen in seiner Prekarität anerkannt wird und der Verlust eines Lebens unabhängig davon betrauerbar ist, wer der andere Mensch war; schlecht ist, wenn die Menschheit in Gruppen eingeteilt, die Prekarität der eigenen Gruppe hervorgehoben und die der anderen ignoriert wird; noch schlechter, wenn diese ungleiche Sichtbarkeit der Prekarität damit einhergeht, dass die Leben der anderen durch militärische Gewalt noch prekärer gemacht, die der eigenen Gruppe aber geschützt werden. Konkreter formuliert: Krieg ist unethisch.
Wer eine solche Ethik zum normativen Maßstab für Politik macht, kann eigentlich nur Anarchist_in werden. Diese Tendenz wird bei Butler deutlich, wenn sie betont, dass ihre Ethik der Gewaltlosigkeit nicht als prinzipielle moralische Verurteilung eines jeden Aktes von Gewalt missverstanden werden solle. Es seien Situationen denkbar, in denen unterdrücktes prekäres Leben keine andere Wahl hat, als zu gewaltsamen Maßnahmen zu schreiten. Wichtig sei, dass sich die Handelnden als lebende Menschen der prinzipiellen Prekarität des Lebens bewusst bleiben und somit ethisch ansprechbar sind. Beim Staat sieht Butler diese Möglichkeit aber nicht. Wenn der Staat gewalttätig handele, dann als souveränes Subjekt (1), nicht als verletzliches Leben. Somit sei er nicht ethisch anrufbar, seine Gewalt ethisch schrankenlos, besonders gefährlich und per se illegitim.
Entsprechend denkt Butler den Staat nach innen immer nur als paternalistischen Herrschaftsapparat, nach außen als Kriegsmaschine. Der Gedanke, dass Staatsgewalt (Gewalt im Sinne von authority, force oder power, nicht im Sinne von violence) eine Bedingung von Institutionen ist und dass Institutionen eine Bedingung von Freiheit und Demokratie in der Gesellschaft sein können, ist Butler fremd; der Gedanke, dass diese Freiheit reale Feinde haben kann, gegen die sie verteidigt werden muss, umso mehr. Die Behauptung, dass es einen solchen Feind gibt, ist bei ihr immer nur die Konstruktion eines Anderen als Feind, der prekarisiert werden soll.
Wird nun ein Staat, der sich im Kampf mit nichtstaatlichen Akteuren befindet, an dieser Ethik gemessen, hat er schlechte Karten. Somit ist es kein Wunder, dass gerade Israel im Zentrum ihrer Kritik steht. Konfrontiert mit nichtstaatlichen Akteuren, die auf seine Vernichtung zielen, kann es eigentlich nur verlieren: entweder es verliert moralisch oder es verliert existenziell. Moralisch verliert Israel, wenn es gegen seine Feinde kämpft. Dann gilt es Butler als gewalttätiger Apartheidsstaat. Butler verurteilt – das ist entscheidend – nicht einen Exzess im israelischen Kampf, sondern den Kampf selbst; sie fordert „a Judaism that is not associated with state violence“. Durch die Erfüllung dieser Forderung, durch den Verzicht auf jeglichen Akt der Gewalt von Seiten des Staates, könnte Israel die moralische Niederlage abwenden. In Butlers Vorstellung bräche dann wohl endlich die Zeit ethisch-gewaltfreien Lebens im Nahen Osten an; weil es aber nach seiner Existenz trachtende Feinde hat, dürfte der Anfang des Judentums ohne staatliche Gewalt (violence) in Wirklichkeit zugleich das Ende des jüdischen Staats und des jüdischen Lebens im Nahen Osten sein.
Dass Butler dies nicht sieht, dürfte mit dem zweiten Element ihres Denkens zu tun haben, das ich hier problematisiere, nämlich ihrem Antiimperialismus. Anders als ihre moralisierende Staatskritik formuliert sie diesen nicht explizit aus, er schwingt aber bei all ihren politischen Urteilen mit. Besonders deutlich zeigt sich dies in ihren Äußerungen über Hamas und Hisbollah, die im Kern der aktuellen Auseinandersetzung stehen. Diese bezeichnete sie als „social movements that are progressive, that are on the left“. Zu ihrer Verteidigung führt Butler an, die Äußerung sei keine Unterstützung für diese Bewegungen, sondern nur eine politisch-analytische Aussage gewesen; die gewaltsamen Taktiken der beiden Organisationen verurteile sie. Doch spricht diese Erwiderung Bände über ihr Weltbild. Sie hat nichts gegen die Ziele der Islamist_innen einzuwenden, sondern nur gegen ihre Mittel. Die Ziele gelten ihr als links und fortschrittlich, weil sich beide ‚gegen den Imperialismus‘ richten. Dass aber eine erklärte Gegnerschaft zu Imperialismus und Kapitalismus ein Kernelement antisemitischer Ideologien und Bewegungen sein kann, scheint ihr keinen Gedanken wert zu sein.
Links und rechts, progressiv und reaktionär nennt sie Akteure nämlich nicht aufgrund von deren Zielen für die Einrichtung der Gesellschaft und des Gewichts, das menschlicher Freiheit und Demokratie dabei zukommt. Statt um die Ziele der Akteure, geht es bei Butler um Macht und Widerstand. Sie versteht Gesellschaft und Politik vor allem als Konstellationen von Macht, durch die einige Akteure in der Position sind, andere zu unterdrücken; in der Position also, die eigene Verletzbarkeit zu verkleinern, aber sichtbar zu machen, die Verletzbarkeit der anderen unsichtbar zu machen, aber zu steigern. Links und progressiv sind dann alle, die aus der unterdrückten Lage Widerstand leisten oder mit solchem Widerstand solidarisch sind. Und dass die größte Unterdrückung der Welt immer noch Imperialismus, verstanden als die Herrschaft westlicher Länder über nichtwestliche, ist, wird von Butler schlicht vorausgesetzt.
Um dieses antiimperialistische Weltbild nicht zu gefährden, verzichtet Butler offenkundig auf jeden Blick auf die Ziele von Hamas und Hisbollah. Nur so lässt sich ihr fortgesetztes Unverständnis gegenüber der Kritik an ihren Äußerungen verstehen. Diese Kritik richtete sich ja nicht (nur) dagegen, dass Butler Organisation, die gewalttätige Mittel nutzen, vermeintlich unterstützte, sondern dagegen, dass sie Organisationen, denen der Mord an Juden erklärtes Ziel ist, fortschrittlich nannte.
Reblogged this on thaelmannpark.
Hinzu kommt, dass die Hamas nicht einmal antiimperialistisch ist: in ihrer Charta hält sie fst, dass sie die Flagge des Islam überall dort wieder hissen möchte, wo dieser mal die Macht ausgeübt hatte, eingeschlossen al-Andalus, also Spanien, nicht gerade ein kleines Imperium möcht man meinen, was den Moslembrüdern da vorschwebt.
Was für antiimperialistische Ideologien eher die Regel als die Ausnahme zu sein scheint. Leninistische und völkische Antiimps wollten ja langfristig auch die ganze Welt beglücken.
Dieser Post deutet an mehreren Stellen frei von der Leber weg, und meiner Ansicht nach auch um, und zwar in eine Richtung die man Butler so nicht unterstellen kann, wenn man wenigstens ihre Antwort auf den Jlem-Artikel gelesen hat. Der Autor meint Denkschemata bei Butler zu erkennen. Ich sehe welche beim Autor.
Frei von der Leber weg, naja. Es steht ja gleich im zweiten Absatz: Es ist ein Blogbeitrag, der basierend auf einer durchblätternden Re-Lektüre von Frames of War und einigen von Butlers politischen Statements versucht, die Verbindung zwischen beiden zu verstehen. Butlers Antwort auf die Jerusalem Post bei Mondoweiss (in der Zeit erschien m.W. eine Übersetzung) zitiere ich ja und gehe explizit auf ihre dort gemachte Relativierung ein. In dem Text sagt sie aber wenig, das sie nicht auch schon im Rahmen ihrer letzten Deutschlandbesuche angeführt hat:
Sie „unterstützt“ H&H nicht (wer hat denn je das Gegenteil behauptet?) und stellt sich deren gewalttätigen Taktiken entgegen. Ein Bewusstsein dafür, dass die strategischen Ziele dieser Organisationen das Problem sein könnten, zeigt sie aber auch nicht.
Was wurde denn umgedeutet? Gibt es bei Butler keinen prinzipiellen, unhinterfragten Antiimperialismus und keine auf Moral basierende Gegnerschaft zu Staatlichkeit?
@florisdumal schrieb:
Gestern ist noch ein (weiterer) Artikel Butlers in der Frankfurter Rundschau erschienen, in dem sie genau auf dieses Problem zu sprechen kommt. Darin zeigt sich, dass ihr „anti-imperialistisches Weltbild“ nicht ganz so unreflektiert/dogmatisch ist, wie es der Artikel zuweilen nahelegt. Inwieweit dies schon bei ihrer Äußerung des umstrittenen Satzes der Fall gewesen war oder erst eine Reaktion auf die Kritik ihr gegenüber ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Wenn damit aber das ideologiekritische Argument „(unbewusster aber interessendienlicher) blinder Fleck“ wegfiele, bliebe nur noch die Unterstellung „geleugnete Sympathie mit den inkriminierten Gruppierungen“ übrig. Wenn ich indessen richtig verstehe, ist eine solche Unterstellung nicht das Ziel Deines Beitrags. Daher würde mich interessieren, ob Du durch die Selbst-Rechtfertigung/-Erklärung Butlers in der FR die hier vorgetragenen Kritikpunkte weitestgehend entkräftet siehst oder ob/wie Du sie aufrecht erhalten würdest, wenn sie dort schreibt:
So, heute morgen, hat mir das Istanbuler Internet keine Antwort ermöglicht, aber nun:
Ich würde nach wie vor an beiden Punkten festhalten:
„Moralisierender Anarchismus“ war vielleicht zu scharf formuliert, in der Sache bleibe ich dabei: Ihre strikte Ablehnung aller staatlichen Gewalt, die nicht auf Unverhältnismäßigkeit und Exzess, sondern auf die Sache an sich zielt, reflektiert nicht, dass die liberaldemokratischen Institutionen, zu denen sie sich hier bekennt, solcher Gewalt im Zweifelsfall bedürfen. Insbesondere dann, wenn der liberaldemokratische Staat mit Feinden im strikten Sinn konfrontiert ist. Das muss bei der Bewertung konkreter Konflikte zu Unstimmigkeiten führen.
Das Adjektiv in „unhinterfragter Antiimperialismus“ sollte nicht darauf hindeuten, dass sie den Antiimperialismus dogmatisch über alles stellt, sondern dass ihr antiimperialistisch=links=fortschrittlich als fraglos gegeben gilt und scheinbar keiner Begründung oder Hinterfragung bedarf.
Was mich wundert: Wenn ein Günter Grass oder ein Martin Walser sagt, man dürfe Israel ja heute nicht mehr kritisieren, ohne mit der Antisemitismuskeule geschlagen zu werden, schreien alle relativ einig auf – zu Recht. Wenn eine Judith Butler aber dasselbe tut und wenn sie dazu noch den antiarabischen Rassismus als eine „Form des Antisemitismus“ bezeichnet und somit weitgehende Unkenntnis in Sachen Antisemitismusforschung offenbart, dann kritisieren das nur israelsolidarische Gruppen. Bleibt die Kritik an Butler so begrenzt, weil sie eine linke Heldin ist oder weil sie jüdisch ist?
Ich sehe die Relevanz und den Zusammenhang der beiden von Dir genannten Punkte. Deren Diskussion als ein theoretisches Problem, das politische Konsequenzen hat, scheint mir auch sinnvoller als eine ihrerseits moralisierende Kritik. Du würdest also den blinden Fleck in Butlers Denken allein durch ihr politisches Bekenntnis noch nicht beseitigt, sondern darin sehen, dass die Konsequenzen des Bekenntnisses mit ihrer politischen Theorie nicht zu vereinbaren sind, so dass entweder die Theorie defizitär bleibt und die Konsequenzen ausgeblendet, oder letztere anerkannt und die Theorie entsprechend revidiert (um die Frage nach der Legitimität staatlicher Gewalt ergänzt) werden müssten. Diese Beobachtung ist sicherlich hilfreich für eine weiterführende Diskussion des Problems. Vielen Dank jedenfalls für Deine Ausführungen dazu und noch eine schöne Zeit in Istanbul.
Was ist BDS – Versuch einer Offenlegung. http://tapferimnirgendwo.wordpress.com/2012/09/01/bds-selbst-fur-finkelstein-zu-heftig/
Ich versuche gerade, mir anhand ihres Posts über den Zusammenhang mit Judith Butlers sprachphilosophischen Grundpositionen Klarheit zu verschaffen. So recht will es mir nicht gelingen. Ich werde nur das Gefühl nicht los, dass auch diese ganze Sprechakterei etwas mit ihren politischen Einschätzungen zu tun hat. Wie gesagt, den Zusammenhang kriege ich nicht recht klar. Können Sie mir weiterhelfen?
Nun, da ich Zeit gefunden habe, selbst erneut in Frames of war hineinzublättern, ist mir wieder einmal aufgefallen, wie unterschiedlich unsere Butler-Lektüren ausfallen. Die von Marie bei Dir ausgemachten Denkschemata hat wohl jede_r irgendwie, sie mögen sich mit der Zeit ändern, und wenn man Glück hat, kann man sie reflektieren, aber ganz los wird man sie wohl nicht. Mit meinen Denkschemata im Kopf will mich Deine These vom moralisierenden Anarchismus und dem unreflektierten Antiimperialismus bei Butler jedenfalls nicht ganz überzeugen. Der Hauptunterschied unserer Lektüren lässt sich vielleicht auf den Punkt bringen, dass ich in der Dekonstruktion weniger notwendig eine Destruktion sehe, dass ich Kritik häufig (auch) als Selbstkritik lese, also nicht mit dem Ziel der Zerstörung eines Anderen, sondern dem der eigenen Besserung. Und schließlich scheint es mir oft eher um eine sowohl-als-auch-Logik als um eine entweder-oder-Logik zu gehen.
Grundsätzlich, das möchte ich vorwegschicken, finde ich es eher zu begrüßen, die politischen Vorwürfe gegen Butler nicht als Ausrede zu nutzen, sich gar nicht erst mit ihrer Theorie auseinanderzusetzen, sondern umgekehrt die Frage zu stellen, ob es zwischen beidem einen Zusammenhang gibt und wenn ja welchen. Bei einigen hat man ja das Gefühl, sie haben nur auf eine gute Ausrede gewartet, sich die eigene Identitätspolitik nicht durch zuviel Komplexität kaputtmachen zu lassen (auch in Frames of war liegt nämlich Butlers „Schwerpunkt weniger auf einer Politik der Identität […] als vielmehr bei der Prekarität und ihrer differenziellen Verteilung“).
Auch Deinen Text (und letztlich, das sei selbstkritisch angemerkt, auch meinen eigenen Kommentar) trifft dennoch mein Generalverdacht, dass es um Israel und Hamas bei diesen ganzen Diskussionen oft nur sehr entfernt geht. Im Vordergrund steht allzu oft Selbstbespiegelung, die eigene Identitätskonstruktion und Verortung in der sogenannten ‚deutschen Linken‘, deren Singular genauso irreführend ist wie der einer ‚globalen Linken‘, von der Butler mittlerweile sagt, sie hätte diesen Begriff lieber gleich zurückweisen sollen, statt ihn aufzugreifen (vgl. ihren Artikel in der taz). So langweilig ich identitäre Verortungen über Fußballfantum oft finde, wäre das manchmal vielleicht doch die weniger Kollateralschäden verursachende Variante.
Aber zu meiner Frames of war-Lektüre. Der von Dir behauptete ‚moralisierende Anarchismus‘ hat mich insofern gewundert, als Butler selbst mehrfach von ‚radikaler Demokratie‘ spricht, auf „liberale Grundsätze wie Gleichheit und Universalität“ verweist und nur zusätzlich zum Nationalstaat die „weltweite[] Interdependenz“ und die „global verflochtenen Netzwerke der Macht“ betont. Statt um eine Abschaffung des Staates geht es also vielmehr um eine gleichberechtigtere und allgemeinere Teilhabe an dessen Gestaltung. Da sie selbst ihren ethischen Anspruch offen legt und aus der für alle Menschen geltenden Prekarität des Lebens und der wechselseitigen Abhängigkeit, da wir von Geburt an vom „sozialen Netz helfender Hände“ abhängen, zu begründen sucht, braucht man ihr Vorgehen außerdem nicht als ‚moralisierend‘ abzuwerten.
Dass Butler den Fokus auf staatliche Gewalt legt, ist in der Tat zu beobachten. Allerdings ist dies m.E. so überraschend oder abwegig nicht, wenn man die Entstehung des Buches während der von der Bush-Regierung geführten Kriege und der Einführung „neuer Formen staatlicher Gewalt“ bedenkt, wo „im Namen der nationalen Sicherheit Quasi-Rechtssysteme geschaffen werden“. Sie stellte sich in diesem Zusammenhang die Frage: „Weshalb gab es insbesondere in den Vereinigten Staaten eine selbstgerechte Haltung gegenüber bestimmten Formen der ausgeübten Gewalt, während die von Amerika erlittene Gewalt entweder lautstark betrauert wurde (die Ikonografie der Toten vom 11. September) oder verleugnet wurde (die Behauptung der maskulinen Unverletzlichkeit innerhalb der Rhetorik des Staates)?“ Wenn sie schreibt: „Gefährdung entsteht vielmehr aus den Wirkungen illegitimer Rechtsgewalt selbst, anders gesagt aus der Ausübung der Staatsmacht ohne die durch das Recht vorgegebenen Grenzen“, dann schließe ich daraus – anders als Du – nicht, dass alle Staatsgewalt per se illegitim ist, dann bräuchte es das zusätzliche Adjektiv nicht, sondern dass es ihrer Kritik tatsächlich doch um den Exzess von Staatsgewalt geht. Die „willkürliche staatliche Gewalt“ ist in ihren Augen wohl deshalb besonders hervorhebenswert, weil „diese Gruppen sich in der Suche nach Schutz nur an eben jenen Staat wenden können, vor dem sie Schutz suchen“. Implizit deutet diese Butler’sche Formulierung darauf hin, dass sie dem Staat sehr wohl eine Schutzfunktion zuschreibt, es also, so sie eine schützende ist, durchaus legitime Staatsgewalt geben kann. Überhaupt klingt die „Pflicht zur Bereitstellung von Basisförderungen zur egalitären Minderung von Gefährdungslagen: Nahrung, Unterkunft, Arbeit, medizinische Versorgung, Ausbildung und Bildung, Bewegungsfreiheit und Meinungsfreiheit, Schutz vor Unterdrückung und Schutz der körperlichen Unversehrtheit“ nicht nach einer Abschaffung des Staates. Sie kritisiert vielmehr bloß die „radikal ungleiche Wohlstandsverteilung und die ungleiche – rassistische und nationalistische – Exposition ganz bestimmter Bevölkerungsgruppen“.
In der Tat mag man kritisieren, dass Butler allzu schnell über nicht-staatliche Gewalt hinweggeht, aber es ist nicht so, dass sie diese gänzlich leugnen würde, in dem von Dir verlinkten Text spricht sie etwa von „violence of all kinds, including state violence“. In Frames of war schreibt sie: „Natürlich wird nicht alle Gewalt durch den Staat ausgeübt, aber es lassen sich heute wohl kaum Fälle von Gewalt finden, die nicht in der einen oder anderen Weise mit der politischen Form des Staates verknüpft sind.“ In meiner Lesart bedeutet Mit-der-politischen-Form-des-Staates-verknüpft-Sein noch nicht, dass es bloß staatliche Gewalt gibt, sondern vielmehr, dass ein staatlicher Rahmen der Schauplatz ist, der Lebensbedingungen bestimmt, innerhalb derer Gewalt entsteht. Dieser staatliche Rahmen ist es denn auch, an dem man etwas ändern kann, damit Lebensbedingungen besser werden, so dass hoffentlich weniger Menschen anfällig sind, beispielsweise ihr Leben ideologisch verblendet als Selbstmordattentäter wegzuwerfen. Wenn Butler darauf aufmerksam macht, dass manche Leben bloß als Bedrohung anderer Leben dargestellt werden, dann liegt darin m.E. keine Leugnung, dass sie tatsächlich eine Bedrohung für andere darstellen, sondern es geht vielmehr um einen Wechsel der Perspektive, um ein sowohl-als-auch: dass ihr Leben sich nicht auf diese Bedrohung reduzieren lässt bzw. dass vielleicht sogar die Bedrohten etwas gewännen, wäre das Leben der Bedroher lebbarer.
Nur wenn man Butlers Gewaltlosigkeitsforderung so einseitig auf Israel bezieht, wie Du es tust, kann man daraus folgern, dass sie ‚das Ende des jüdischen Staats und des jüdischen Lebens im Nahen Osten sein‘ würde. Wenn die Vision ist, dass sich die aus der allgemeinen Prekarität ergebende Ethik auf allen Seiten durchsetzt und man sich auf dieser Basis auf ein Zusammenleben einigt, geht es weniger um ein Ende jüdischen Lebens in Israel, sondern um lebbareres Leben für Israelis und Palästinenser und wer sonst noch alles dort lebt. Man muss die Feinde nicht leugnen, nur weil man sie nicht töten, sondern lieber ihre Feindlichkeit durch die Erkenntnis gemeinsamer menschlicher Verletzlichkeit überwinden will. Das von Dir gebrachte Zitat klingt jedenfalls schon deutlich weniger passiv, wenn man die zweite Hälfte des Satzes nicht weglässt: “It makes me into someone who wishes to affirm a Judaism that is not identified with state violence, and that is identified with a broad-based struggle for social justice.” Das kann immer noch ein Wunsch nach radikaler Demokratie sein, ein Wunsch, den Konflikt über soziale Gerechtigkeit zu lösen statt durch kriegerische Mittel. „This view makes me perhaps more naïve than dangerous, but it is my view. […] My own view is that the peoples of those lands, Jewish and Palestinian, must find a way to live together on the condition of equality.” Mir ist klar, dass solch radikaler Pazifismus häufig als unrealistisch gesehen wird, diese Meinung magst Du gerne vertreten. Pazifismus ist aber etwas anderes als Anarchismus und unhinterfragter Antiimperialismus. Auf die Sache mit dem Antiimperialismus und dass dieser kein ausreichendes Kriterium für eine Zuordnung zur Linken ist, ist Butler nun in ihrem neueren taz-Artikel eingegangen.
Butler leugnet nirgendwo die Möglichkeit realer Feinde eines Staates, sie konzentriert sich aber auf eine Kritik der Folgen, die eine Konzentration auf kriegerische Mittel mit sich bringt. Es geht ihr in Frames of war auch um die innenpolitischen Auswirkungen der kriegführenden Nation USA, „wie anscheinend rein ‚innenpolitische‘ Fragen im Dienst der Außenpolitik geregelt werden“. Darauf will sie überhaupt aufmerksam machen, damit dies bei demokratischen Entscheidungen mitbedacht wird, sich soziale Bewegungen nicht zu Kriegszwecken vereinnahmen lassen.
Der Staat steht also vielleicht vor allem deshalb im Vordergrund, weil es die Sphäre ist, wo Butler selbst und ihre Leser_innen selbst ihre „politischen Verantwortungen“ wahrnehmen und „ethische[] Entscheidungen“ treffen können.
Ein bisschen klingt mir Deine Reaktion nach einem typischen Fragetypus nach wissenschaftlichen Vorträgen, der letztlich auf den Vorwurf hinauslaufen, nicht über ein Thema gesprochen zu haben, das eine_n mehr interessieren würde… Vielleicht wäre es tatsächlich angebracht, sich ausführlicher mit Hamas und Hisbollah auseinanderzusetzen. Butler geht es offenbar „zunächst um eine Neuausrichtung und Erweiterung der politischen Kritik der Staatsgewalt“.
Wenn ich mal von mir auf die frischgekürte Adorno-Preisträgerin schließe, was vermutlich nicht unbedingt angebracht ist, dann hätte ich auch eine Erklärung für die ungleich verteilte Kritik und warum USA und Israel davon mehr abkriegen als andere: vielleicht weil sie sich eigentlich mit den USA und Israel viel eher identifiziert/identifizieren kann, besser über deren Funktionieren Bescheid weiß und sich zugehörig genug fühlt, sich für interne Kritik zuständig und berufen zu fühlen. Vielleicht steht für sie die Betrauerbarkeit israelischer Leben gar nicht in Frage (wovon man bei dem aktuellen An-die-Oberfläche-Schwemmen des sonst etwas latenteren Antisemitismus zumindest hierzulande wohl nicht ausgehen kann). Ich selbst kritisiere jedenfalls auch eher deutsche Politik und den deutschen Staat als andere Staaten, und das heißt nicht, dass ich Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten notwendig für schlimmer und kritisierenswerter halte. Gerade weil eine gewisse Grundsolidarität durch Zugehörigkeit vorausgesetzt werden kann, kann man (Selbst)Kritik üben. Es ist wie mit Witzen, die ich in der Regel auch lustiger finde, wenn ich dabei über mich selbst lachen kann, statt andere zu verlachen.
Abschließend muss ich noch loswerden, dass mich auch Dein im Kommentar gemachter Vergleich mit Walser oder Grass nicht überzeugt. Letztere verwenden schon bevor sie ihre sogenannte Israel-Kritik äußern den Topos, dass man sowas ja nicht sagen dürfe, sie es aber trotz drohender Antisemitismuskeule mit letzter Tinte dennoch tun. Es geht also um Aufmerksamkeitserheischen durch den angeblichen Tabubruch, der gar keiner ist, weil sowieso dauernd alle Israel kritisieren und die wenigsten dafür so viel abkriegen wie Butler, die die israelische Politik kritisiert und gerade nicht das ganze Land und dies schon gar nicht – wie im sekundären Antisemitismus – stellvertretend für alle Juden. Dass sie selbst Jüdin ist, würde antisemitische Israelkritik nicht rechtfertigen. Dass sie Jüdin ist, macht sie aber vielleicht weniger anfällig für die antisemitischen Varianten der Israelkritik, schließlich haben Grass und Walser aus ihrer persönlichen Geschichte viel eher einen Drang, eigene Schuld abzuwälzen, indem man auf die Schuld anderer deutet.
Was ich mit all dem sagen will: Man muss nicht mit Butlers politischer Haltung übereinstimmen, kann z.B. Boykott-Aktionen gegen Israel ablehnen, aber aus ihrer Theorie, die immer wieder nationalistische, sexistische und rassistische Tendenzen kritisiert, lässt sich m.E. viel eher Hamas-Kritik folgern als eine unkritische Haltung ihr gegenüber.
(alle nicht anderweitig eingeordneten Zitate sind aus der Einleitung der deutschen Übersetzung von Frames of war – habe die englische Version gerade nicht hier, die Pendelexistenz … Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt: Campus, 2010.)
Danke für die ausführliche Kritik! Hier erst noch einmal eine grundsätzliche Verdeutlichung meiner Position, danach eine Reihe von Erwiderungen auf einzelne Punkte.
Ich will nun gar nicht das letzte Wort haben, das kann sich nehmen, wer möchte. Dennoch sei vorweggeschickt, dass das mein letzter Kommentar unter diesem Posting ist. Das frisst sonst doch allzu viel Zeit.
Grundsätzliches:
Auf die Sache mit den Denkschemata und der Identität will ich mal nicht weiter eingehen. Egal, welche inneren Bedürfnisse und Präkonzeptionen einem Diskussionsbeitrag nun zugrunde liegen mögen, entscheidend ist doch, dass er in der Sache mit Argumenten begründet werden kann. Und auch nach einer intensiveren Re-Lektüre der Einleitung des Buchs bin ich der Ansicht, dass dies für meinen Blogbeitrag gilt.
Die andere polemische Spitze, nach der ich einer von den aus Prof. Röslers Rollenspielen bekannten nervtötenden Typen bin, die sich nach einem wissenschaftlichen Beitrag darüber beschweren, dass nicht die Fragestellung thematisiert wurde, die man sich selbst gewünscht hätte, finde ich treffender. Doch halte ich solche Einwände unter Umständen für legitim. Es ist ja nicht so, dass die Entscheidung, welchem Gegenstand man sich mit welcher Fragestellung und welchem theoretischen Instrumentarium nähert, über Kritik erhaben wäre. Und Butlers Entscheidung, sich mit den von ihr gewählten normativen Maßstäben und dem von ihr gewählten Politikbegriff an die Bewertung von staatlichem Handeln in den internationalen Konflikten unserer Zeit zu gehen, halte ich für kritikwürdig.
Dabei habe ich erst einmal gar nichts dagegen, normative Maßstäbe zur formulieren und staatliches Handeln an ihnen zu messen, im Gegenteil ist das ausgesprochen wünschenswert. Jedoch sollte man dafür zumindest einen Begriff von Staatlichkeit haben, der berücksichtigt, dass das staatliche Monopol auf innere und äußere Gewalt eine notwendige (nicht hinreichende) Bedingung dafür ist, dass (Menschen-)Rechten eine Aussicht auf materiale Gültigkeit haben, dass Demokratie, wie wir sie kennen, praktiziert wird, und dass sich eine Professorin in Berkeley oder Frankfurt ausführliche Gedanken über Queerness und gewaltfreie Ethik machen kann. Wenn man einen solchen Begriff von Staatlichkeit hat, muss man auch akzeptieren, dass für die Durchsetzung und Aufrechterhaltung dieses Gewaltmonopols mitunter Handlungen notwendig sind, die wir bei einem individuellen Menschen völlig zu Recht verurteilen würden. Meinem Eindruck nach fehlt diese Reflexion bei Butler aber und sie bewertet staatliches Handeln umstandslos nach denselben ethischen Maßstäben, nach denen sie auch individuelles Handeln bewerten würde. Deshalb stimmt es zwar, dass sie alle positiven Seiten des Staates (Parlamente, Sozialsysteme, vielleicht sogar Menschenrechte) befürwortet; die unschönen Bedingungen dieser schönen Dinge, will sie aber nicht haben – und das ohne dass sie beides ausreichend ins Verhältnis setzen würde.
Damit will ich freilich nicht sagen, dass jemand, der die Früchte eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates genießt, automatisch alle von diesem Staat ausgehende Gewalt billigen oder zumindest stillschweigend hinnehmen muss. Staaten begehen nach innen und außen laufend Akte exzessiver Gewalt, die durch nichts zu rechtfertigen sind und die von linken Professor_innen eher zu selten als zu oft kritisiert werden. Wer sich jedoch dieser Kritik widmet, der sollte die Besonderheit der Staatsgewalt berücksichtigen und versuchen, Kriterien für die Trennung von legitimer, weil für Fortexistenz des demokratischen Gemeinwesens notwendiger und illegitimer, weil exzessiver oder die Demokratie schädigender Gewalt vorzulegen (1).
Einer, der sich lange derartigen Überlegungen gewidmet hat, ist Michael Walzer. Dessen Thesen kann ich auch nicht allesamt gutheißen, aber er erfasst das grundsätzliche Dilemma bei der Bewertung von staatlichem Handeln. Dass Butler eben diesen Michael Walzer in Bausch und Bogen verdammt (2) liegt meines Erachtens wiederum daran, dass ihr ein Begriff von Staatlichkeit und staatlichem Gewaltmonopol als Ermöglichung demokratischer Politik abgeht. Dies wiederum führt dazu, dass sie staatliche Gewalt in einer Art und Weise kritisiert, die zu Ende Gedacht auf die Existenzbedingungen von Staaten zielt.
(1) Vielleicht hast Du ja Recht und Butler hat irgendwo im Kopf solche Kriterien, ausformuliert sehe ich sie nirgends.
(2) in der englischen Ausgabe pp. 152-158, interessanterweise taucht dabei kein einziger Verwies auf eine Stelle in Walzers Büchern auf, was den Verdacht weckt, dass Butler diese gar nicht gelesen hat, sondern nur Talal Asads Kritik daran.
Vereinzeltes:
I.
Ich muss sagen, dass ich das doch überraschend finde, nämlich insofern, als am Anfang dieser Kriege ein nichtstaatlicher Akt der Gewalt stand. Von diesem abstrahiert Butler weitgehend. Ebenso abstrahiert sie davon, dass der Rückgriff auf völkerrechtlich und verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Maßnahmen nicht in allen Fällen Willkür der Bush-Regierung war, sondern oft eine Reaktion auf eine völkerrechtlich und verfassungsrechtlich nicht vorgesehene, aber doch sehr reale Bedrohung. Nur wenn man diese Bedrohung berücksichtigen würde, könnte man irgendwelche sinnvollen Aussagen darüber treffen, welche der Maßnahmen legitim waren und welche nicht (es gab eine ganze Menge, die es mit Sicherheit nicht waren). Eine solche Reflexion sehe ich bei Butler einfach nicht. Das Handeln der USA und Israels scheint hier immer als Ausgangspunkt einer willkürlichen Gewalt.
II.
Einige Deiner Argumente scheinen mir überzeugend zu sein, aber an meinem Beitrag vorbeizugehen. So widerlegst Du sehr plausibel die Behauptung, Butler sei eine Anarchistin, die die Abschaffung des Staates fordert. Das habe ich aber gar nicht geschrieben, sondern nur, dass bei Butler eine dahingehende Tendenz deutlich wird, nämlich eine Verurteilung staatlicher Gewalt, die auch die Existenzbedingungen von Staaten infrage stellt. Wahrscheinlich hätte ich mir die Ausdrücke besser gespart und von einer moralisierenden Staatskritik gesprochen.
III.
Ebenso überzeugend widerlegst Du die Behauptung, dass Butler sich das Ende des jüdischen Lebens im Nahen Osten wünscht. Auch das will ich ihr nun wirklich nicht unterstellen. Natürlich wünscht sie sich wie wir alle einen Nahen Osten, ja eine Welt, in der alle Menschen friedlich und glücklich zusammenleben. Die von ihr geäußerte Kritik scheint sich aber doch darin zu erschöpfen, Juden und Jüdinnen bzw. Israel zu gewaltfreiem Handeln aufzufordern, damit dieses Milch-und-Honig-Land endlich Wirklichkeit wird. Es mag sein, dass sie das tut, weil sie selbst Jüdin ist und die Kritik an der eigenen Gruppe für sie die naheliegende Wahl ist. Allerdings halte ich dies für naiv und gefährlich, weil es ein aktiver Beitrag zur Delegitimierung des jüdischen Staates ist. Und unabhängig davon, was für eine Welt wir uns wünschen, ist dieser jüdische Staat aktuell die Bedingung jüdischen Lebens im Nahen Osten, eben weil es Gruppen gibt, die auf die Vernichtung der Juden zielen.
Und auch nach mittlerweile drei Klarstellungen Butlers zu ihren Aussagen, fehlt mir immer noch die Anerkennung der Tatsache, dass Hamas und Hezbollah eben nicht nur aufgrund ihrer gewaltsamen Taktiken, sondern aufgrund ihrer strategischen Ziele sowie ihrer antisemitischen und reaktionären Ideologie abzulehnen, ja zu bekämpfen sind.
IV.
Hier die Stelle, auf die ich im Ausgangsbeitrag verwies (hätte ich wahrscheinlich besser mit einer Literaturreferenz versehen, das kam mir dann aber zu wenig Blog-mäßig vor). Dort führt Butler aus, dass ihre normative Position kein Prinzip der Gewaltlosigkeit ist, nach dem man der Gewalt grundsätzlich abschwören muss, sondern eine situationssensitive Ethik, die dazu auffordert, den Bedingungen entsprechend zu versuchen, gewaltfreie Wege zu finden. Ausführlich heißt es:
Zugegeben, in diesen Sätzen finden sich so viele relativierende Einsprengsel, dass der Gehalt schwer greifbar ist; zugegeben auch, im mittleren Absatz geht es gerade darum, dass auch die Gewalt von Akteuren, die mit unterdrückerischen Staaten konfrontiert sind, ein ethisches Problem sein kann. Unterm Strich finde ich dennoch, dass in diesen Zeilen deutlich wird, dass Butler nicht nur unberücksichtigt lässt, dass staatliche Gewalt die Bedingung von Freiheit in der Gesellschaft sein kann, sondern sie staatliche Gewalt verglichen mit nichtstaatlicher Gewalt als besonders verurteilenswürdig begreift, eben weil der Staat nicht als verletzlicher, ethisch ansprechbarer Akteur auftritt, sondern als Souverän, der die Verletztlichkeit seiner eigenen Bürger_innen minimieren will. Zudem scheint es in beiden Absätzen so, als wäre die staatliche Gewalt die Ursache des Problems, die nichtstaatliche eine mögliche Reaktion darauf.
V.
Ich kann hier nicht auf alle von Dir zitierten Stellen eingehen, aber auf einige.
Butlers Stoßrichtung an dieser Stelle wird erst deutlich, wenn man den vorangehenden Satz bzw. Satzanfang mitliest. Im Englischen heißt es:
Also geht es Butler hier gerade darum zu betonen, dass die gefährdeten Leben nicht gefährdet sind, weil ihnen ein Staat fehlt, der ihren Menschenrechten Geltung verschafft, sondern dass es gerade der Staat ist, der die Prekarität produziert (BTW: Wenn ich mich nicht täusche, müsste es hier ihrer eigenen Terminologie nach nicht precariousness, sondern precarity heißen). Damit wird deutlich, dass sie den Staat zuvorderst als Gefährder des Lebens sieht. Ähnliches wird auch an einer anderen von Dir zitierten Stelle deutlich:
Die „Schutzfunktion“, die Butler dem Staat zuschreibt, ist also allenfalls ein Schutz vor dem Staat selbst. An den meisten anderen von Dir zitierten Stellen, an denen es darum geht, den Menschen allgemeine Güter zur Verfügung zu stellen, erwähnt Butler nicht, dass das etwas mit dem Staat zu tun hat
VI.
Lassen wir Walser mal beiseite, dessen Wunsch, dass die Deutschen sich endlich „wieder nationalen Aufgaben zuwenden“ können, wenn sie Auschwitz bewältigt haben, gehört wirklich in eine andere Kategorie.
Auch bei Grass spielen freilich noch ganz andere Bedürfnisse eine Rolle als bei Butler. Dennoch wirst Du einige Parallelen zugestehen müssen. Beide äußern sich in einer Weise zum Nahostkonflikt, die eindeutig von Doppelstandards geprägt ist und Israel dämonisiert. Wenn sie dafür kritisiert werden, lautet ihre Reaktion, Antisemitismus sei ja wirklich schlimm, Kritik an Israel dürfe aber nicht allgemein des Antisemitismus verdächtigt werden. Damit ignorieren sie nicht nur die wirkliche Kritik an ihren Positionen, sondern nähren zugleich die antisemitische Legende, Israelkritik wäre ein Tabu.
Selbstverständlich ist das Ende des Staates Israels als Konsequenz der Forderung Butlers nach gewaltfreiem ethischem Handeln impliziert.
Aber das sollte man nicht hysterisch auffassen…
Dahinter steht eigentlich ein ziemlich konstruktiver Gedanke.
Der Anarchismus geht prinzipiell davon aus, dass die Organisationsform Staat obsolet, teuer, belastend und zudem hinderlich für den inneren und äußeren Frieden sozialer Horizonte zu verstehen ist.
Mir leuchtet das ein.
Wenn Menschen ihre Identifikation mit der Organisationsform Nationalstaat aufgeben und sich souverän, freiheitlich und verantwortlich in Netzwerken zur solidarischen und kooperativen Problemlösung arrangieren, entstehen ganz andere Optionen, Wertemuster und Handlungsmöglichkeiten als in der Assoziation zum Staat, zur Nation, zur Rasse oder zu religiösen oder idealistischen Konfessionen.
Menschen, die bereit sind, von der Identifikation mit Staat, Rasse, Volk oder Nation loszulassen, sind womöglich die einzige wahre Chance für friedliche Annäherung im Nahen Osten.
Wenn man einen Friedensprozess im Nahen Osten befördern will, geht es wohl darum, den Menschen plausible alternative Strukturen der sozialen Organisation anzubieten. Also massiv Internationale Hilfsnetzwerke knüpfen, die in den gebeutelten Gebieten weitgehend autarke Infrastrukturen aufbauen.
Es geht hier ja nicht nur um das mögliche „Ende des Staates Israel“.
Es geht um die durchaus naheliegende Vermutung, dass die Abkehr von der Assoziation in Staatssysteme und der Identifikation mit dem Nationalstaat womöglich sogar die einzig wirklich greifbare Chance für mehr Frieden und soziale Gerechtigkeit in der Welt darstellt.
Es geht um die Idee sämtliche Staatssysteme allmählich zu entlasten.
… staatliche Institutionen ihrer Funktion zu entheben:
… eine Gesellschaft global vernetzter, freier Individuen zu etablieren…
… überall auf der Welt (und besonders in Krisengebieten) Projekte zum Aufbau von Infrastrukturen und zur kooperativen Problemlösung und Konfliktlösung zu organisieren.
… Je mehr wir uns jenseits von Staat und Markt arrangieren lernen, desto weniger werden wir mit Problemen konfrontiert, die klar systemimmanent zu verstehen sind.