Am 5. September hatte das Literarische Colloquium Berlin zu einer ganztägigen Übersetzer*innen-Fortbildung zum Thema »Fremde Texte – eigene Texte« eingeladen. Die Übersetzerinnen Gabriele Leupold und Eveline Passet, Kuratorinnen dieser Fortbildungsreihe, sagten einleitend, das Thema sei u.a. inspiriert von der Welle hochkochender Emotionen im Mailing-Forum des Berufsverbands der Literaturübersetzer*innen, nachdem der Verbandsname geschlechtergerechter angepasst wurde zu »Verband deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke e.V.« (mit Slash, also keineswegs allzu neumodisch oder diversere Geschlechter mitberücksichtigend, und man kann nicht behaupten, dass der Name vorher besonders griffig gewesen wäre, weshalb intern ohnehin alle nur VdÜ sagen). Es solle jedoch nicht nur um das Gendern gehen, sondern allgemeiner darum, inwieweit wir beim Übersetzen von Texten eigene Anpassungen vornehmen.

Anatol Stefanowitsch stellte seinem Vortrag im LCB eine Inhaltswarnung voran.
Um hochkochende Emotionen ging es auch im Vortrag des Sprachwissenschaftlers Anatol Stefanowitsch, bekannt u.a. durch Sprachlog.de und den »Anglizismus des Jahres«. Zu letzterem wurde (thematisch passend) 2018 erstmals ein Hybrid-Wort gekürt, nämlich »Gendersternchen«. Das Wort entstand über das Pseudo-Lehnwort »Genderstar«, welches im Englischen gar nicht existiert. Dieses Beispiel zeige besonders deutlich, dass Anglizismen »ganz normale deutsche Wörter« sind.
»Politisch korrekte« Literatur. Gedanken zu einem diskriminierungsfreien literarischen Schreiben und Übersetzen
Den Vortragstitel habe Eveline Passet ihm vorgeschlagen. Die Anführungszeichen um »politisch korrekt« allerdings stammten von ihm, schließlich handele es sich um einen Kampfbegriff, der eine bestimmte Art des Sprachgebrauchs angreife. Dass Stefanowitsch sich dagegen bemüht, im positiven Sinne politisch korrekt zu sein, nämlich ethisch überlegt und emphatisch mit einem diversen Publikum, zeigte auch die »Inhaltswarnung«, die er voranstellte: In diesem Vortrag komme diskriminierende Sprache vor. Er selbst spreche und schreibe viele Wörter nicht aus, in literarischen Zitaten habe er sie aber so gelassen, wie sie sind.
Das durch den Raum gehende Schmunzeln ließ darauf schließen, dass ein Großteil des Publikums diese Gepflogenheit der »Content note« noch nicht kannte. Die Schriftstellerin Nina George hatte bei ihrem Festvortrag zur VdÜ-Jahrestagung im Mai solche Inhaltswarnungen als bedrohliches Zensur-Szenario für Romane ausgemalt. Mindestens im Rahmen eines solchen Vortrags über Literatur – und in Erinnerung an die Diskussion zur Verwendung des N-Worts zwischen Publikum und Podium bei einer anderen LCB-Veranstaltung, vgl. meinen Beitrag über den James-Baldwin-Abend im März – empfand ich diese Warnung jedoch als sinnvolles Mittel, mit dem der Referent zugleich zeigte, dass er seinen ethischen Anspruch an das Verfassen von Texten auch auf seinen eigenen Vortrag angelegt hat.
Die goldene Regel der Sprachmoral
In seinem Buch Eine Frage der Moral. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen stellt Stefanowitsch folgende goldene Regel auf:
»Stelle andere sprachlich nicht so dar, wie du nicht wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstellt.«
Ich muss mir eine Welt wünschen, in der es egal wäre, in welche Gruppe ich hineingeboren werde. Dass es hierfür auch bei Gegner*innen politisch korrekter Sprache durchaus eine Intuition gebe, erläuterte Stefanowitsch am Beispiel der Reaktionen auf die Grundordnung der Uni Leipzig, die 2013 das generische Femininum einführte. Genau wie in der vorherigen Fassung für das generische Maskulinum wurde auch hier durch eine Fußnote geklärt, dass weiterhin Männer und Frauen gemeint sind. Wer sich vorher nicht daran gestört hatte, sollte somit eigentlich auch jetzt kein Problem haben.
Aber weit gefehlt – es schrieben plötzlich Leute darüber, die sich vorher noch nie für die Grundordnung der Uni Leipzig interessiert hatten (und die sie auch gar nicht betrifft). Alexander Kissler schrieb etwa im Cicero, dies würde »dem Verstand Gewalt antun«, es handele sich um »brutalen Sprachmissbrauch«, um »die Gewalt der Begriffsverbieger« und er fragte: »woher dieser Selbsthass der männlichen Befürworter«?
Das ist sicherlich übertrieben formuliert, enthält aber die Wahrheit, dass es durchaus die eigene Position verunsichert, wenn man sich nie genau sicher sein kann, ob man wirklich mitgemeint ist. Mit dieser Intuition dürften Leute wie Kissler im Umkehrschluss eigentlich auch von Frauen nicht mehr erwarten, sich mit dem generischen Maskulinum zufrieden zu geben. Diese Umkehrintuition fehle bei den meisten konservativen Feuilletonisten allerdings noch.
Es gebe aber noch ein weiteres Problem mit der goldenen Regel. Schließlich fühlen sich viele Männer, u.a. offenbar diejenigen der Uni Leipzig, durch das generische Femininum in diesem spezifischen Kontext nicht unbedingt gestört. Wenn diese nun sagen, na mich stört’s nicht, und dann auch von Frauen erwarten, sich umgekehrt nicht vom generischen Maskulinum stören zu lassen, vernachlässigt das gesellschaftliche Asymmetrien. Wer in 99 % der Kontexte sicher weiß, gemeint zu sein, den wird so eine Uni-Grundordnung mit umgekehrten Regeln nicht in seiner Identität erschüttern. Oder auf eine andere Kategorie übertragen: Wenn Reichen wie Armen verboten ist, unter Brücken zu schlafen und auf der Straßen zu betteln, haben Reiche damit weniger Probleme als Arme. Ergo: Zum Anwenden der goldenen Regel, muss ich sicher stellen, dass ich mich überhaupt in die Position der anderen Gruppe versetzen kann.
Hinzu kommt, dass die Sprache nicht für alle Gruppen dieselben Mittel zur Verfügung stellt. Mit obiger Folie stellte Stefanowitsch heraus, dass die heterogene Gruppe der Diskriminierten ihre Gemeinsamkeit vor allem im Gegensatz zum berüchtigten weißen, heterosexuellen Mann habe, der weiter ausdifferenziert zudem ablebodied, deutschstämmig, christlich sozialisiert und finanziell abgesichert ist sowie Bildungszugang hat. Während es für die außerhalb des Kreises viele, spezifisch auf sie zugeschnittene Schimpfworte gebe, habe Stefanowitsch schon ganze Seminare darauf angesetzt, Schimpfworte speziell für diejenigen in der Mitte des Kreises zu finden. Die Ausbeute war jedoch eher mager:
Es gibt keine ebenso gewaltvollen Wörter für Weiße wie das N-Wort für Schwarze. Wenn die aus dem Inneren des Kreises beleidigt werden, geschieht dies vielmehr meist, indem sie mit Wörtern aus dem Außenkreis beschimpft werden! Statt mit (abwertenden) spezifischen Wörtern referieren »wir« auf das Innere des Kreises häufig mit Wörtern wie: »normal, wir, Menschen, Leute, man«.
Die Folie, dass die meisten im Raum sich in eben dieser Mitte befänden, wurde in der anschließenden Diskussion kritisiert. Bei einem Vortrag vor Literaturübersetzenden habe der Referent ja voraussehen können, dass deutlich über 50 Prozent des Publikums weiblich seien (und auch nicht unbedingt alle deutschstämmig). Dass Frauen, die ja gerade keine Minderheit darstellen, trotzdem zu den Diskriminierten gehören, sei ebenso absurd wie tiefverwurzelt. Allerdings gehe es auch vielen anderen »von uns« so, dass sie sich auf einer der Ebenen nicht in der Kreismitte befänden, auf vielen anderen aber schon. Und auf einer Ebene diskriminiert zu sein, mache leider noch nicht automatisch bewusster über Diskriminierung allgemein. Er werde die Folie trotzdem überarbeiten.
Wenn man diese Asymmetrie nun bei der goldenen Regel mitbedenke, lautet sie jedenfalls so:
»Stelle andere sprachlich nicht so dar, wie sie dich umgekehrt gar nicht darstellen könnten.«
Welche ethischen Fragen sich Autor*in und Übersetzer*in stellen sollten
Von dieser allgemeinen Regel kam Stefanowitsch dann zur Literatur. Literarisch Schreibende überschätzen sich seiner Meinung nach zuweilen, wie gut sie sich in andere hineinversetzen können. Bestimmte Erfahrungen fehlen dann aber. Darüber hinaus stellt sich bei literarischen Texten die Frage, wer die Verantwortung für das darin Gesagte trage. In Deutschland fallen die meisten Beleidigungen strafrechtlich unter Kunstfreiheit. Bei strafrechtlich relevanten Aussagen wie etwa der Leugnung des Holocaust wäre interessant, wo da in der Literatur die Grenze ist. Eine literarische Figur dürfte dies vermutlich tun. Aber dürfte das auch ein auktorialer Erzähler?
Bei der folgenden Folie dachte ich sofort bei mir »Wir bräuchten androgynere Piktogramme für Menschen!«. Auch diese Folie wurde in der anschließenden Diskussion kritisiert. Stefanowitsch antwortete, dass die Figurenverteilung Absicht sei: Die Folie solle zeigen, wie männlich dominiert der Literaturbetrieb ist. Eine Stimme aus dem Publikum gab zudem zu bedenken, dass neutrale Bezeichnungen ja auch das Problem haben, dass bestehende Stereotypen wirken. Im Sinne der anfänglichen Inhaltswarnung und der Empathie für die Zuhörer*innenschaft hätten »wir« uns aber sicherlich stärker mitgedacht gefühlt, wenn die bewusste Asymmetrie des Piktogramms vom Vortragenden gleich explizit benannt worden wäre.
Wenn man mit ethischen Fragestellungen an Literatur herangeht, sollte man sich als Autor*in überlegen:
- Bin ich die Person, die dieses Werk schaffen kann und soll?
- Soll diese Geschichte erzählt werden? Wenn ja, wie und von wem?
- Kann und soll ich diese*n Erzähler*in schaffen?
- Kann und soll ich diese Erzählwelt schaffen?
- Wie soll diese*r Erzähler*in sprechen?
- Kann und soll ich diese Figur schaffen?
- Wie soll diese Figur sprechen?
- Kann ich Alltag und Innenwelt dieser Figur nachvollziehen (und soll ich es versuchen)?
- Wie wirkt das Werk auf Leser*innen mit unterschiedlichen Hintergründen?
Beim Übersetzen existieren das Werk und dessen Sprache ja bereits. Hier lautet also die grundlegende Frage:
Soll das überhaupt übersetzt werden?
Außerdem ist die letzte Frage zur Wirkung des Werkes besonders relevant. Durch die Übersetzung geht es nämlich auch um die Wirkung auf neue Leser*innen in der Zielsprache, an die der*die Autor*in ggf. noch nicht gedacht hat.
Wenn es um die Sprache spezifischer gesellschaftlicher Milieus geht, kann man sich auch als Übersetzerin fragen, ob man in das deutsche Pendant dieser Lebens- und Sprachwelt genug Einblick hat oder ob eine andere Person für die Übersetzung vielleicht geeigneter wäre.
Fallbeispiele: Tom Sawyer, Pippi Langstrumpf und Co.
An ausführlichen Fallstudien zu Mark Twains Tom Sawyer und Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf demonstrierte Stefanowitsch dann die verschiedenen Ebenen des Werks und wie Autor*in, verschiedene Übersetzer*innen wie auch Neuauflagen in der Originalsprache damit umgegangen sind. Dabei waren die Übersetzungen zuweilen deutlich diskriminierender als der Ursprungstext, zuweilen sehr nah am Original, zuweilen aus guten Gründen stärker davon abweichend. Dass in der englischen Tom Sawyer-Ausgabe von 2011 zum Beispiel das auktoriale »negro« wie auch das in Figurenrede auftauchende englische N-Wort (das nur neunmal im gesamten Text vorkommt) jeweils durch »slave« ersetzt wurde, hat nicht nur mit dem beleidigenden Charakter der Wörter zu tun, sondern auch mit dem Vorwissen jungen Leser*innen: Vielen ist häufig gar nicht mehr klar, dass das englische N-Wort damals nur für Sklaven verwendet wurde. Für eine heutige Übersetzung ist die (nicht allein ethische) Überlegung grundlegend, dass Mark Twain die Bezeichnungen »negro« und »colored« verwendet hat, weil es damals die neutralen Bezeichnungen waren. Also müsste man es schon für die Wirkungsäquivalenz für heutige Leser*innen mit den heute verwendeten neutralen Bezeichnungen übersetzen.
Auch als Übersetzerin von Pippi Langstrumpf kann man sich fragen: Muss die Welt so sein, wie sie dargestellt ist? Ist das wichtig für die Geschichte? Muss ich deshalb heutige Kinder beleidigen? Schließlich wird der Kreis hiesiger Leser*innen, die potentiell betroffen sind, größer. In der anschließenden Diskussion äußerte der Referent, dass das gesamte Frühwerk von Astrid Lindgren eigentlich ganz aus dem Verkehr gezogen werden müsste, da man zu viel inhaltlich verändern müsste, damit es nicht mehr problematisch ist. Andererseits sollte man Mädchen nicht die eine starke Mädchenfigur wegnehmen, die es in berühmten Kinderbüchern gibt.
Als Beispiel für das fehlende Vermögen, sich als weiße Autorin in eine Schwarze Stimme hineinzuversetzen, führte Stefanowitsch Sue Monk Kidds hochgelobten Roman The Invention of Wings an. Die Autorin habe die Stimme der Schwarzen Figur zwar technisch sehr gut mit Markern für African-American English ausgestattet, aber inhaltlich sei es oft fragwürdig, dass sie so denkt, wie sie im Roman denkt, und die Figur bleibe viel holzschnittartiger als die weiße Erzählstimme. Dass auch die deutsche Übersetzung von einer hochgebildeten, weißen Frau angefertigt wurde und zudem noch das generelle Problem hat, was man auf Deutsch mit dem African-American English macht, verschärft das Problem hier noch. Vielleicht hätte sich schon die Autorin auf die Perspektive der weißen Stimme beschränken sollen, gerät sie doch zu oft selbst in die Stimme ihrer Schwarzen Figur.
Als Beispiel für eine Geschichte, die gar nicht erst hätte erzählt werden sollen, diente Kate Breslins For Such a Time. Es sei sicher kein Zufall, dass dieser Roman nicht ins Deutsche übersetzt wurde, die folgenden Bücher der Autorin – die durchaus gut schreiben kann – hingegen schon. Auch dieser Roman sei zwar gut geschrieben, aber die Auswahl des Stoffes miserabel: Der evangelikalen Autorin dient der Holocaust als Hintergrund für eine Romanze zwischen einem KZ-Leiter und einer Jüdin, die am Ende Christin wird und durch das Leiden Jesu Christi auch mit ihrem eigenen Leiden besser umgehen kann.
Das generische Maskulinum und Alternativen dazu
In der auf den Vortrag folgenden Diskussion, wurde der Referent unter anderem gefragt, was er vom generischen Maskulinum halte. Er führte aus, dass es in einer Zeit entstanden sei, als Bürgerinnen noch gar keine Rechte hatten, also ohnehin nicht gemeint waren. Dass die Fußnoten, Frauen seien mitgemeint, schon in 1960er und 70ern auftauchen, mache für ihn deutlich, dass das Generische am generischen Maskulinum von Anfang an eine Fiktion war. Er halte es insgesamt für psycholinguistisch sehr bedenklich.
Was die Alternativen angeht, ist er nicht der Meinung, es gebe eine bestimmte Lösung, die immer die beste sei. Vielmehr sei die ethische Verpflichtung die, darüber nachzudenken, wie man spricht und wer vor einem sitzt und wie das bei denjenigen ankommt. Er selbst mache es mal so mal so. Man müsse ja mitbedenken, mit welchen zusätzlichen Inhalten welche Form behaftet sei: Das Binnen-I lässt an die zweite Welle der Frauenbewegung denken, * ist queer und sexy, _ dasselbe in weniger sexy und ernsthafter.
In literarischen Texten seien generische Maskulina übrigens gar nicht so häufig. Ständig über gemischte Gruppen zu sprechen, komme eher in Sachtexten vor. In jedem Fall wünscht er sich, dass die Expert*innen für literarisches Schreiben, also Autor*innen und Übersetzer*innen, sich in die Debatte überhaupt einbringen (statt immer nur dagegen zu sein, was bei den sich laut äußernden Autor*innen vor allem der Fall ist).
Von den Backlash-Trollen aus der Mailing-Liste schien niemand anwesend zu sein, jedenfalls hielt niemand Brandreden zur Verteidigung des generischen Maskulinums (und damit der Kultur und Sprache allgemein, die durch dessen Abschaffung angeblich gefährdet ist). Eine männliche Publikumsstimme fand vielmehr im generischem Femininum die ästhetischen und ethischen Ansprüche an Literatur am ehesten eingelöst, weil ja die männliche Form meist in der weiblichen mit enthalten sei und man trotzdem kein zusätzliches Zeichen brauche. Weitere Vorschläge aus dem Publikum waren zwei Punkte über dem i wie in »Übersetzerïn« oder, wie Monika Rinck es in Champagner für die Pferde tut, die türkische neutrale Plural-Endung -ler, also z.B. »Schriftstellerler«.
Ob wir weniger Probleme hätten, wenn das generische Maskulinum tatsächlich generisch verwendet würde – wie es z.B. DDR-sozialisierte Erzieherinnen heute noch konsequent tun? Studien mit französischen Muttersprachler*innen zeigen, dass diese schneller darauf kommen, dass etwas generisch gemeint ist, weil das generische Maskulinum da noch verbreiteter ist. Es gibt aber trotzdem eine Verarbeitungsverzögerung, sie ist nur kürzer als im Deutschen.
Der Vorschlag der Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch »das Lehrer, der Lehrer, die Lehrer« wurde im Deutschen nie ernsthaft versuchsweise aufgegriffen. Das könnte man als Autor*in mal versuchen; als Übersetzer*in vermutlich nur in Absprache mit dem*der Autor*in. Etwas Ähnliches wird im Französischen gerade versucht, und obwohl es dort besser funktioniert als im Deutschen, nicht unbedingt mit Begeisterung aufgenommen. Demgegenüber gibt es im Russischen wenig Aufregung über die Praxis, die männliche Grundform mit weiblicher Kongruenz am Verb und Adjektiv etc. zu verwenden. Je nach Sprache lassen sich also verschiedene kreative Lösungen finden.
Ästhetik, Historizität und die betroffenen Communities
Auf die Frage, ob es nicht auch wichtig sei, die Historizität von Texten zu wahren, kamen die Gegenfragen: Mit welcher Intensität muss man die wahren? Muss das auf jeder Seite sein? Nimmt man dafür in Kauf, dass man bestimmte Leser*innenschaften ausschließt?
In den USA gibt es mittlerweile die Praxis des sogenannten »Sensitivity-Readings«: Lass dein Werk vorher von mindestens zwei Leuten aus dem betroffenen Milieu lesen. Eine solche Praxis wäre auch fürs Übersetzen sinnvoll.
Wenn man die Fragen dieses Vortrags aus Sicht der von Diskriminierung Betroffenen heraus denkt: Gilt da dieselbe Sprachmoral? Oder verschiebt sie sich? Autor*innen aus Minderheiten maßen sich sehr viel seltener an, aus der Perspektive anderer Gruppen zu schreiben. Wenn es mehr (veröffentlichte!) Texte aus den Communitys selbst gäbe, würde sich die Mitte vielleicht schneller verschieben. Zudem hätten Autor*innen aus der weißen Mitte Material, an dem sie sich orientieren können. Grund für die Aufgeregtheiten in der Diskussion ist, dass gesellschaftlicher Wandel oft viel schneller geht als sprachlicher Wandel.
Um die Perspektive Betroffener stärker in den Mittelpunkt zu rücken, ließe sich auch die Frage stellen, wieso ausgerechnet ein weißer, männlicher Professor zu diesem Vortrag eingeladen wurde, also offensichtlich keine Mehrfachdiskriminierter. Zugleich ist das Problem diskriminierenden Sprechens eines der Mehrheit, und das Hinterfragen dieser Sprachpraxis sollte nicht allein an den Diskriminierten hängen bleiben. In dieser Hinsicht ist es wiederum erfreulich, wenn ein Mensch, der aus einer privilegierten Position spricht (und deshalb Gehör findet), dieses Privileg für ein Empathie-Plädoyer nutzt und dabei die eigene privilegierte Rolle reflektiert.
Aus Sicht des Referenten ist die oft beschworene Ästhetik jedenfalls kein Totschlag-Argument gegenüber allen anderen Überlegungen, auch nicht in der Literatur. Das Recht auf Diskriminierungsfreiheit und die Ästhetik müssen gegeneinander abgewogen werden. Wenn man sich an bestimmten Stellen für die Ästhetik entscheidet, muss man auch dazu stehen, dass man dafür in Kauf nimmt, einer bestimmten Gruppe auf den Kopf zu hauen. Außerdem stellt sich auch hier die Frage: Wessen Ästhetik eigentlich? Und warum ist diese Ästhetik wichtiger?
Nostrifizierung, Gebrauchsliteratur und Übersetzen als Übertrumpfen
Der als zweiter Referent eingeladene Shakespeare-Übersetzer Frank Günther (noch ein weißer Mann) musste leider absagen. Er hätte vermutlich eher eine original-getreue Übersetzung vertreten, aber auch über zeitgeistbedingte Abweichungen berichtet (z.B. wie Wieland Shakespeares Hamlet-Monolog in Prosa statt Versen übersetzte). Besonders empfehlenswert aus seinem Buch Unser Shakespeare ist, den Organisatorinnen der Fortbildung zufolge, der Aufsatz über die »Nostrifizierung« von Shakespeare, wie aus dem englischen Autor ein deutscher gemacht wurde.
Der Ausfall ließ sich verschmerzen, da so mehr Zeit für die traditionellen nachmittäglichen Werkstätten blieb. In zwei Gruppen diskutierten und erarbeiteten die Teilnehmenden anhand konkreter Beispiele Positionen zum Fortbildungsthema.
Die von Gabriele Leupold geleitete Werkstatt verglich verschiedene Übersetzungen der sogenannten Arschwisch-Szene von Rabelais von 1534 sowie verschiedene Übersetzernachworte (ja, alles nur Männer). Relativ einhellig wirkte die Übersetzung von 2013 zu belanglos, blass und vereindeutigend, insbesondere im Vergleich zur ersten deutschen »Übersetzung« noch aus dem 16. Jahrhundert, die vor barocker Sprachlust nur so sprudelt und trotz oder gerade wegen der freien Hinzudichtungen, die fast die Hälfte des Textes ausmachen, die Haltung des Originals besser wiedergab. Ein Scheibchen von diesem Gestus der Übersetzung als Übertrumpfung sollten wir uns vielleicht abschneiden – jedenfalls eher als das abfällige Sprechen über die Langatmigkeit des Originals, die ein (langatmiges) Nachwort von 1951 als »gute Gründe« für eine ganze Reihe drastischer Kürzungen für die deutsche Version angab. Zur Ehrenrettung unserer heutigen Zeit diente eine freiere »Hommage« an Rabelais von Stephan Maus (vgl. »Like a Textmachine« auf Literaturkritik.de).
Die Werkstatt von Eveline Passet beschäftigte sich derweil mit verschiedenen »Übersetzungen« von Defoes Robinson Crusoe, das Passet zufolge schon sehr früh »zum Gebrauchsstück verkommen« sei, an das einige Teilnehmende aber lebhafte und positive Lektüreerinnerungen hatten. Genauer betrachtet wurden die ersten beiden Bearbeitungen für Kinder und zwei neuere Bearbeitungen sowie die allererste deutsche Übersetzung und die Neuübersetzung von 2019. Zurück zum Vortrag von Anatol Stefanowitsch und dem Augenmerk darauf, um welche literarische Ebene es sich jeweils handelt, führte unter anderem die Feststellung, dass diejenigen Bearbeitungen und Übersetzungen deutlich problematischer sind, die das ursprünglich als Ich-Erzählung geschriebene Buch in eine auktoriale Er-Erzählung überführen. Was aus der beschränkten Sicht eines Ich-Erzählers noch als historische Haltung begründbar wäre, bekommt plötzlich eine Deutungshoheit und Autorität, die Betroffene deutlich stärker angreift.
Da solche vermeintlich kindgerechten Ausgaben die ethische Probleme noch verschärfen, kam aus der Runde der Vorschlag, kindgerecht kommentierte Ausgaben herauszugeben, z.B. mit aus Kindersachbüchern gewohnten Kästchen am Rand, die für selbstlesende Kinder wie auch als Hilfestellung für vorlesende Eltern historische Zusammenhänge und heute problematische Inhalte erläutern. So könnten traditionsreiche Kinderbücher, die man heute teilweise ethisch für problematisch hält, aber gleichzeitig z.B. aufgrund ihrer literarischen Qualität oder aus anderen guten Gründen (Pippi Langstrumpf als starke Mädchenfigur, der faszinierende Stoff des Aufbauens einer Zivilisation bei Defoe) für bewahrenswert hält, eventuell weiter auch heutigen Kindern als Alltagslektüre dienen und man muss sie nicht gänzlich in die Bücherregale historisch und literaturgeschichtlich interessierter Erwachsener verbannen. Auch hier kommt es aber auf die Intensität der Herabwertung von Menschen im jeweiligen Buch an, ob diese durch einordnende Kästchen gebannt und einem in seinem Selbstwertgefühl angegriffenen Kind der notwendige Halt gegeben werden kann.
PS: Über Twitter hat Anatol Stefanowitsch schon eine Alternative für die „You are here“-Folie vorgeschlagen: https://twitter.com/i/status/1171078551464042496