„Der Physiker und Professor für komplexe Netzwerkrecherche Albert-László Barabási sieht aus wie ein sehr sympathischer Typ, der kein Wässerchen trüben kann. Man sollte sich aber besser vor ihm fürchten,“ kommentiert der Perlentaucher in seiner aktuellen Magazinrundschau einen Vortrag, den der prominente Netzwerktheoretiker kürzlich auf Edge.org gehalten hat.
Barabási hat sich in den letzten Jahrzehnten mit vielen Arbeiten auf dem Gebiet der aufsteigenden network science hervorgetan. Die Grundidee dieser jungen Wissenschaft ist es, die gesamte physikalische, biologische, soziale und technische Welt durch Netzwerkstrukturen zu beschreiben und ihr Ziel besteht darin, die mathematischen Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, nach denen sie funktioniert. Damit sollen dann auch Vorhersagen über das Verhalten komplexer Systeme möglich werden. Was Barabási begeistert, ist die Aussicht, mittels mathematischer Modelle solche Netzwerkstrukturen auch beherrschen zu können: „Eine Frage, die mich in den letzten zwei Jahren fasziniert hat ist: Können wir irgendwann die Daten nutzen, um Systeme zu kontrollieren? Wenn Du die Macht hast, Vorraussagen zu machen, wirst Du letztendlich auch den Punkt kommen, sie kontrollieren zu können.“
Um dieses Ziel zu erreichen, ist der Netzwerkforscher nun auf der Suche nach Daten, vielen Daten, den big data, die man braucht, wenn man die ganze Leben berechnen will. Barabási erklärt in seinem Vortrag, dass es diese Daten im Grunde schon gibt. Leider seien die meisten davon in privater Hand. Die Rede ist von Facebook, Google und Mobilfunkanbietern. Durch die zunehmende digitale Vernetzung wissen sie immer genauer, worüber die Leute sprechen, wo sie sind, was wie machen, wann und wie oft. So dreht sich die Phantasie des Wissenschaftlers also darum, wie man an diese Daten herankommen könnte. Diese Überlegungen Barabásis sind es auch, vor denen sich der Perlentaucher zu fürchten beginnt:
„Daten sind heute die Goldmine der Wissenschaft. Damit ändert sich auch die Einstellung, wie wir mit den Daten umgehen. Wir leben in einer unstabilen Situation, in der der Zugang zu Daten nicht genau ausgearbeitet ist. Es gibt gesetzliche Grenzen. Viele Firmen kümmern sich nicht um ihre Daten oder benutzen sie nicht für wissenschaftliche Zwecke. Das muss irgendwie aufhören. Mir ist aber unklar, wie. Ich weiß nicht, ob die amerikanische Regierung Google oder Facebook dazu zwingen wird, ihre Daten mit Wissenschaftlern zu teilen. Die wissenschaftliche Gemeinschaft muss einen Weg finden, dieses Problem zu lösen.“
Es ist gewissermaßen eine politische Utopie des Laplaceschen Dämons digitaler Provenienz, die der Netzwerkforscher hier formuliert; also die Vorstellung, dass man per Gesetzesbeschluss oder Gesellschaftsvertrag Zugang zu allen Daten bekäme, die über die Gegenwart vorhanden sind, um mittels dieser Daten zukünftige Ereignisse vorherzusagen und so eine maximale Kontrolle über die Lebensbedingungen der Netzwerkgesellschaft zu erlangen. Kybernetik 3.0.
In dieser Utopie verschränken sich offenbar zwei Motive miteinander. Zum einen schreibt sich in ihr fast ungebrochen das Versprechen des wissenschaftlichen Fortschritts weiter, das spätestens seit Francis Bacon als ein Projekt umfassender Naturbeherrschung proklamiert und seit der Aufklärung bis zum Zweiten Weltkrieg auch die Grundlage des Versprechens gesellschaftlichen Fortschritts geworden ist.
Das zweite Motiv Barabásis ist eher eine Reaktion auf die Folgen des technischen Fortschritts: „wir müssen die neue Wissenschaft ausbilden als eine Antwort auf die Herausforderungen unserer Gegenwart: Daten-Probleme, Sinnmachen aus Daten-Problemen.“ Mithilfe der neuen, digitalen Technologien werden so viele Daten erzeugt und verarbeitet, dass die schiere Masse an digitalen Informationen eine menschliche Überforderung mit sich bringt, die der Soziologe Dirk Baecker als das Kennzeichen des Computerzeitalters versteht:
Am Computer studieren wir eine Überforderung, mit der wir es seit dem Beginn des elektrischen Zeitalters zu tun haben. Elektrizität, so Marshall McLuhan, heißt Instantaneität, heißt weltweiter Signalaustausch in Lichtgeschwindigkeit. Seither sind wir global miteinander verknüpft, vernetzt und verschaltet, ohne zu wissen, woher wir die Zeit und den Raum nehmen sollen, um dies auf ein menschliches Maß zu reduzieren.
Das zweite Motiv besteht also darin, eine solche Reduktion zu leisten: die selbstverschuldete Selbstüberforderung zu überwinden – und zwar durch genau das Mittel, das diese Überforderung überhaupt erst erzeugt: die computerbasierte Datenverarbeitung, die eine objektive Darstellung und damit die zuverlässige Beherrschung der Realität endlich gewährleisten soll. Von einem solchen Objektivitätsanspruch geht Barabási tatsächlich aus. Für ihn sind alle digitale Informationen nur ein Spiegel der Wirklichkeit:
Es ist erstaunlich, das Telefon, das Internet, welches Gerät du auch nutzt, es reflektiert nur deine Bedürfnisse, deine Kommunikations-Bedürfnisse und dein Verhalten. Bloß weil wir das Internet haben, bloß weil ich ein Mobiltelefon habe, ändern sich nicht grundlegend meine Verhaltensmuster.
Wenn man sagt, die Leute müssen ja trotzdem essen und schlafen, ist das sicherlich richtig. Aber das herauszufinden, braucht man keine neue Wissenschaft. Was an der Spiegelthese problematisch ist, kann man z.B. versuchen, auf Klaus Kusanowskys Blog in Erfahrung zu bringen, das sich dem theoretischen und praktischen Verstörungspotential der Internetkommunikation widmet. Wenn die Überforderungsthese richtig ist, dann spiegeln digitale Kommunikationsmedien nicht das ‚wahre‘ Leben, sondern verändern es auf unabsehbare Weise.
Wenn man sich also vor dem sympathisch wirkenden Netzwerkforscher fürchten sollte, dann nicht, weil er mit einer kybernetischen Soziophysik das gesellschaftliche Leben bald umfassend berechnen und beherrschen wird. Der Laplacesche Dämon der vernetzten Welt wird sich selbst immer wieder in den Stricken verfangen, aus denen er sich zu befreien versucht. Etwas gruselig ist aber der Umstand seiner konkreten Verstrickung.
Während Barabási in seinem Edge-Vortrag vor allem über den Nutzen der Netzwerkforschung für die medizinische oder logistische Zwecke spricht, ist er auch Mitglied des Committee on Network Science für Future Army Applications, das – von der US-Army beauftragt und vom National Research Council organisiert – eine 2004 erschienene Studie über den Nutzen der network science für das neue militärische Paradigma der Network-Centric Warfare ausgearbeitet hat. Ein Ergebnis der Studie: Man sei zwar noch nicht so weit, um schon militärisch verwertbare Ergebnisse zu erzielen, aber – so empfehlen die Autoren – man sollte das Projekt mit der gleichen Ernsthaftigkeit weiter vorantreiben, wie die Entwicklung der Atombombe.
Vor diesem Hintergrund ist Barabásis Überlegung, ob die Regierung Google, Facebook und Co. nicht zwingen könnte, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, dann doch einigermaßen unheimlich.
Beunruhigend an der Auffassung von Barabási ist weniger der Versuch, allumfassende Kenntnis und Auswertung in Aussicht zu stellen, sondern mehr die naive Kausalitätsannahme, die in dem Theorem des Laplaceschen Dämons enthalten ist. Diese naive Annahme lautet, dass alles auf Ursache und Wirkung zurückführbar sei, also auf ein Wechselverhältnis der Ungleichzeitigkeit von Bedingungen. Nimmt man an, dass die Welt so und nicht anders funktioniert, so könnte man jeder Zeit annehmen, dass das eine durch das andere beeinflussbar und vielleicht auch kontrollierbar wäre. Jedoch: was sich gleichzeitig ereignet, kann man nicht beinflussen, weil Gleichzeitigkeit jeden Durchgriff der Kausalität blockiert. Denn kein System kann auf der Basis seiner eigenen Operationen auschließen, dass gleichzeitig in einem anderen System etwas anderes passiert. Wollte man annehmen, man könne alle Möglichkeiten in einem System operativ bündeln, so bliebe immer noch die Frage übrig, woran und wodurch es sich selbst erkennt, bemerkt, beobachtet und auf sich selbst reagiert. Mindestens ein Unterschied muss also immer vorkommen, und damit eine Wahl, mit der eine Option eingeschlossen wird; und mit diesem Einschluss kommt eine andere als ausgeschlossene Option ebenfalls noch in der Welt vor, und zwar gleichzeitig.
Das Dämonische an dem Laplaceschen Dämon ist die Paradoxie, dass die Rechnung ohne den Dämon gemacht wird, welcher nämlich, stellte man ihn als Variable selbst in Rechnung, herausfindet, dass alles was so oder so geht, auch ganz anders geht. Die Annahme, die Wirklichkeit sei Resulat meiner Bedürfnisse schließt die Vermutung ein, dass meine Bedürfnisse nicht real, gleichsam hypo-real wären. Wer so versucht, die Welt zu verstehen, und diesen Unterschied nicht bemerkt, lässt sich heillos auf Verwicklungen ein, die niemand durchschaut. Was nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht alle Rettungsversuche diesen Unterschied ebenfalls ignorierten und damit alles noch viel komplizierter machen werden.
Aber vielleicht endet auch alles in einem dämonischen Gelächter.
Dahinter steckt die alte und seit Virilio und Wenzel entkräftete Gefahr eines Universalmonitors, der von der kritischen Theorie und auch Feaucould eher als split screen wahr genommen wiird. Praxis in der Erstellung eines Universakmonitors würde eben auch heißen, dass wir die uns beobachten eben auch beobachten können, da die andere Variante „Big Brother“ inzwischen überholt scheint. Beängstigend ist eher, wie dumm die Unternhmen sind und die Regierungen sind, dieses im Netwerk vorhandene Wissen nicht in ihre Forschung und Innovationen mit einzubeziehen, die wir – das Netz – ja von uns aus freiwillig preis geben. Übrigens finde ich es an der Zeit, dass die Soziologie und die Systemtheorie mal zur Kenntnis nimmt, dass Massenmedien und Fernsehen und das Internet nicht einfach als Manipulationsgroßagitator wirken, sondern die Abenteuer der Kommunikation, ( Wenzel, 2001) und vor allem alle Medien vor dem Internet von der Soziologie nie empirisch hinreichend erforscht wurden, was ein Skandal ist. Die soziologischen Theorien zu den Massenmedien können aber nicht einfach auf Das Internet übertragen werden, was aber fast ständig unhinterfragt geschieht. Masse ist eben per se verdächtig und riecht nach Zwang, obwohl es gerade die weak ties, die individuelle und mit Gatekeepern und Influencern sehr gut beschriebene Kommunikationsstruktur und der parasozialen Vertrauensbezeihungen ist, die hier vorliegt, die solche Massenphantasien und Universalmonitor Hysterien in den Reich der Fabeln verweist. Das Buch von Harald Wenzel ist darum auch nur von einem einzigen Soziologen in Deutschland zur Kenntnis genommen worden und der hats verrissen, wegen Ellul und anderen Anmerkungen, die der Profession halt den Spiegel vorhalten und deren „Dünkel“ und den Ekel vor der Masse, des homo academicus beschreiben. Dabei kann man in der Praxis mit den Abenteuern der Kommunikation und dem Gegensatz privat/ öffentlich sehr gut und glaubwürdig arbeiten, während ich mit Wenzel, Die Versuche der Systemtheorie,, der Frankfurter Schule und auch Feaucould, mangels einer empirischen Erfahrung mit Massenmedien für gescheitert halte.
Der „Dämon“ im Sinne einer Newtonschen Physik ist ja lediglich Stellvertreter-Vokabel für Determinismus. Selbst wann man die These teilen möchte: In der Physik würde es nicht reichen die Naturgesetze zu kennen, sondern für alle Teilchen muss man Anfangsort und Impuls kennen. Übertragen auf User wären hier zum Beispiel sozialer Status und Impetus/Motivation zu assoziieren. Und spätestens hier bricht die Argumentation ab: Die Neurowissenschaften zeigen – trotz aller Bemühungen und Versuche des Neuromarketing – dass unser Gehirn eine eher probabilistische, verspielte „Maschine“ ist.
Und doch ist ein Teil der Vision von Barabási schon heute Wirklichkeit: Walmart hat mit seinem Social Genome Projekt (http://www.walmartlabs.com/social/social-genome/) zumindest eine Art Verhaltensprognose der Menschen im Netz generiert.
Der Determinismus in Barabásis Projekt mag sicherlich daher rühren, dass er von Haus aus Physiker ist und nun meint, durch eine allgemeine Netzwerktheorie das Kausalitätsmodell auf soziale oder auch biologische Phänomene bruchlos übertragen zu können. Man beachte in dem genannten Vortrag nur einmal seine Thesen zur zukünftigen Medizin: „The doctors don’t think in terms of the wiring diagram. They think of things in terms of symptoms, they think in terms of drugs, but they don’t have a mechanistic thinking of what really happens within the cell, what happened so that you got that particular disease. That has to change. The road to change is really going to have to go through networks.“ Als ob das Netzwerkmodell das mechanistische Paradigma wieder einführt, dass durch die Theorie der autopoietischen Systeme doch überwunden werden sollte. Das gilt sowohl für die Biologie wie für die Soziologie. Ich habe jedenfalls bisher noch nirgends eine entsprechende Reflexion bei Barabási gefunden, wie diese grundsätzlich verschiedenen Paradigmen zueinander passen sollen. Ich glaube, er kümmert sich einfach nicht darum. Und insofern erscheint das alles tatsächlich naiv, was vielleicht auch wirklich nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht auf der Grundlage solcher Modelle neue Institutionen geschaffen würden, die die soziale Realität nach diesen mechanistischen Prämissen nicht nur interpretieren, sondern verändern (d.h. politisch, technisch oder wirtschaftlich umstrukturieren).
Vielen Dank auch für die weiterführenden Hinweise. Sowohl Wenzels Buch als auch Walmarts Social Genome Project kannte ich bisher noch nicht. Letzteres erinnert mich ein bisschen an den Heidelberger „Dispute-Index“, der Wikipedia als eine Art geopolitisches Orakel betrachtet und darin die Biochemie der Weltgeschichte sucht (https://blogkow.wordpress.com/2011/07/27/wikipedia-als-geopolitisches-orakel/). Auch hier ist es ein objektivistisches Phantasma der Netzwerkforschung, das das Internet in dem oben erwähnten Sinne als „Universalmonitor“ des Lebens betrachtet. An dieser Stelle wäre es sicherlich auch einmal interessant, solche Netz-Phantasmen als digitale Fortschreibungen der alten Metaphorik vom „Buch der Natur“ zu untersuchen (siehe dazu auch Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt)
Aaah ja. Blumenberg,Über das Abenteuer und eine Prise Georg Simmel und schon hat sich der Tag wieder gelohnt und das Twittern über “ abstrakte“ Themen. Danke, Danke. für das Verständnis und einen dank Kusanowsky und Ihnen konstruktiven Austausch über die Abenteuer der Kommunikation und die Defizite der empirischen Erforschung der soziologischen Funktion von Massenmedien. Max Webers Forderung auf dem ersten Soziologentag, und auch die ameriknische Soziologie hat, so Wenzel weder wirklich sich mit Zeitungen und dem Massenmedium Fernsehen wirklich richtig grundlegend befasst. Leider auch die Kommunikationswissenschaft, vor allem nicht zum großen Teil auch die Lehre in der PR- Ausbildung, die ich praktisch durchlaufen habe. Dank meiner soziologischen Grundausbildung und meine Praxis in Öffentlichkeitsarbeit war es eine echte Entdeckung, was Harald Wenzel da zusammengetragen hat und er beginnt sein Kapitel mit _ Blumenberg und Michael Nerlich. Wunderbar.
@stromgeist
„Betreibt man Technologie, findet man sich als Soziologe wieder. Betreibt man Soziologie, wird man zwangsläufig zum Technologen. […] Mit den Mittlern fangen nämlich immer die Ketten von Mittlern an, auch Netzwerke genannt. Man kommt nie an ein Ende mit ihnen. Soziologen und Technologen, diese verfeindeten Brüder, glauben jedoch, an ein Ende zu kommen, die einen beim Gesellschaftlichen, die anderen bei den Gegenständen. Das einzige, was sie nicht beenden können, ist ihr Bruderkrieg, ein Krieg, der uns daran hindert, die Welt zu verstehen, in der wir leben.“ (S. 50/51)
Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin 1996.“
Hallo Kusanowsky, das mit dem Bruderkrieg gefällt mir gut. Nur glaube ich und habe es auch in der Praxis in meinem Berufsleben auch erlebt und genossen, es geht auch anders: Es kommt zu einer konstruktiven Kooperation von Soziologe und Techniker. Wenn beide Seiten ein Problem gemeinsam erkennen oder einem gemeinsam erteilten interdisziplinären Auftrag folgend ein Problem lösen wollen. Sehr oft wird ein Verkehrsoziologe zu einer Veranstaltung von Technikern “ wenn auch nur als Feigenblatt, eingeladen. Das passiert ja schon mal und genau das ist dann die Chance nicht – normale Diskurse dort anzuzetteln und eine überraschende neue geminsame Lösung zu initieren. Leider werden Soziologen nicht schlau. Sie kapieren nicht, dass sie für ihre Fragen bezahlt werden müssen, sondern suchen zuerst nach Antworten auf die Fragen anderer. Das zu ändern, ist die Kunst. Das musste ich auch sehr schwer erst mal selbst lernen, um als kundensoziologischer Berater der automobilen Gesellschaft arbeiten zu können.
„Sie kapieren nicht, dass sie für ihre Fragen bezahlt werden müssen“
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Streit fortzusetzen. Eine Möglichkeit ist, andere daran zu erinnern, was sie kapieren müssen.
Sehr interessanter Artikel, lieber stromgeist, und schöne Diskussion im Anschluss. Dabei musste ich daran denken, in welchem Maße doch das Fernsehen derartige Themen aufnimmt und in verschiedenen Szenarien wiederum darstellt.
So etwa die neuere Serie „Person of Interest“, in der ein Ex-Cia-Agent mit einem Informatiker zusammenarbeitet, um Gewaltverbrechen zu verhindern. Letzterer hat nämlich eine „machin“ entwickelt, die aufgrund der Vernetzung aller verfügbaren digitalen Daten der Welt einen Mord voraussagt (natürlich ursprünglich konstruiert gegen Terroranschläge, jedoch schießt die Maschine gleichsam über ihr Ziel hinaus, indem sie – weil sie ja ALLE DATEN hat – auch ALLE MORDE anzeigt). Hierfür spuckt die Maschine einzig eine Sozialversicherungsnummer aus, die – und dies letztlich das Problem – entweder zum Opfer oder zum Täter gehört. Zudem ist überhaupt nicht klar, in welchem Zusammenhang und aus welchem Grund überhaupt der Mord geschehen wird, was schließlich von beiden Protagonisten herauszufinden bleibt, um das Verbrechen verhindern (oder nicht) zu können.
So haben wir auf der einen Seite eine irgendwie funktionierende black box, die aus der Totalität der Vernetzung gewissermaßen eine körperliche Singularität extrahiert, deren baldiges Verschwinden einen sichtbaren Knotenpunkt bildet, der aus eben jenen mannigfaltigen Linien gebildet wird (und hier wird nicht mehr, wie noch früher in anderen Serien oder Filmen, mit Wahrscheinlichkeiten operiert, sagen wir mal Minority Report, wo es immer noch um die Frage der Freiheit zur Entscheidung geht). Auf der anderen Seite wird diese Gleichzeitigkeit von „Alle Informationen haben“ und „Die Schlussfolgerung daraus bleibt uns verborgen“ darin gespiegelt, dass die in einen Mordfall verwickelte Person zwar bekannt, jedoch die Art ihrer Verwicklung bis zu einem gewissen Zeitpunkt verborgen bleibt.
Hier ist die Vernetzung durch eine Maschine (einen Dämon) gegangen, die Voraussagen treffen kann, so als würde Totalität immer schon Voraussage implizieren. Nicht ohne Ironie, gar leichtem Wehmut, wird des Öfteren in dieser Hinsicht auch auf Daten vor dem sogenannten digitalen Zeitalter (sprich einfache Papierakten) zurückgegriffen, deren Nichttotalität für andere überraschende Momente herhalten muss. Interessant bleibt aber die implizite Voraussetzung, die neuerlich mit dem Begriff der Totalität ins Spiel gebracht wird, sprich aus einer gegebenen Gesamtheit von Elementen eine Vorhersage über deren Möglichkeiten an Effekten abzuleiten, die nicht mehr wahrscheinlich, sondern zwingend sind. Solchem Determinismus kann nur wiederum jenes Element begegnen, dass dem Gesetz der Maschine am nächsten kommt (der Erbauer sowie dessen Initiierter) und jenen Sozialversicherungsnummern selbst (sehr schön deren besondere Allgemeinheit im Sinne eines (Zahlen-)Subjekts und im dies Sinne Hegels) wie eine allwissende Macht erscheinen muss, die plötzlich in ihr Leben tritt, um dessen Verlauf – einem Dämon oder clinamen gleich – abzulenken. Als müsste die untrügliche Gesetzmäßigkeit der Maschine von einem untrüglichen (integren, geläuterten und somit absolut moralischen) Subjekt gegengezeichnet werden, um den nicht zu überbrückenden Abstand zwischen Totalität der Vernetzung und Singularität des Vernetzten immerzu zu überdecken – letztlich doch um die Selbstverstrickung der Maschine permanent aufzuschieben. Die Totalität in den Dienst von etwas Gutem zu stellen, d.h. Realität als solche zu beherrschen, bleibt wohl die realste Phantasie. In diesem Sinne wird sich in der Serie „Person of Interest“ gerade an der Überforderung durch das Netz, wie es in der bezeichnenden Einsilbigkeit der Maschine noch gesteigert zum Ausdruck kommt, abgearbeitet, insofern selbst die exakte Angabe der betreffenden Singularität die Wirklichkeit eben dieser noch herausfordert. Physischen Ausdruck findet dies in der Figur des Ex-CIA-Agenten, der die Totalität des Alles-Könnens verkörpert, aber gerade durch seine Allmacht unheimlich scheint und in den Fängen seines zwar strikt ethischen, jedoch stets auch kühlen Vollzugs unentwirrbar verstrickt bleibt.
Ein wunderbarer Beitrag, thalia! (Der mich im übrigen auch neugierig auf die Serie gemacht hat, die ich noch nicht kenne). Dazu ist mir noch etwas eingefallen, was ich ohnehin schon einmal merkwürdig fand, nämlich dass Barabási selbst explizit auf solche Sci-Fi-Modelle rekuriert, um damit sein eigenes Vorhaben zu erläutern und zu plausibilisieren.
In einem Sciene-Artikel von 2005 (10.1126/science.1112554) beginnt Barabási seine Ausführung mit einer längeren Reminiszenz an Isaac Asimovs Foundation-Zyklus. In dem Roman geht es darum, wie sich der über ein Jahrtausend erstreckende Plan des Psychohistorikers Harry Seldon erfüllt, der die Anarchiephase zwischen dem Zusammenbruch des galaktischen Imperiums und der Wiedererrichtung einer neuen galaktischen Ordnung verkürzen soll. Seldon versammelt dafür eine große Zahl Wissenschaftler auf dem fernen Planeten Terminus, vorgeblich um an einer Galaktischen Enzyklopädie zu arbeiten, in der das Wissen der Zivilisation vor dem Verlust während der Chaosphase gerrettet werden soll. Tatsächlich aber sammelns sie eine ungeheure Menge an Daten, um mithilfe Seldons psychohistorischer Gleichungen umfassende Berechnungen über die zukünftigen Ereignisse anzustellen. Mit diesen Gleichungen können die Wissenschaftler das Verhalten von Massen ziemlich exakt vorhersagen, nur das von Individuen nicht. Daher reichen die Berechnungen stets bis an den Punkt, an dem der Lauf der Geschichte von mächtigen historischen Persönlichkeiten entschieden wird. Solche Situationen heißen dann Seldon-Krisen, für die die Wissenschaftler nur noch gewisse Wahrscheinlichkeiten des Ausgangs nennen können, die aber mit zunehmender zeitlicher Differenz immer unsicherer werden. So geschieht es dann, dass regelmäßig zu solchen Seldon-Krisen in einer Art planetarischem Mausoleum der längst verstorbene Harry Seldon als eine Holographie erscheint und die Lage erstmal zusammenfasst à la „Nach meinen Berechnungen müsste jetzt gerade dieses Problem vorliegen und ihr habt nun folgende Möglichkeiten…“ Dabei darf Seldon natürlich nicht die Entscheidung vorgeben, was nun zu tun ist, denn das würde ja die Zukunft oder vielmehr seine Berechnungen von ihr verändern und den ganzen Plan sabottieren. Doch muss er eben in diesen Krisen eben immer wieder erscheinen, um seinen eigenen Mythos und dessen Vergessen zu revidieren („Es gibt ihn also wirklich!“) und dann auch, um die Alternativen zurechtzurücken, zwischen denen dann wieder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gewählt werden kann. Ganz so, wie Du schreibt, thalia, als müsste die untrügliche Gesetzmäßigkeit der Gleichungen von einem untrüglichen Subjekt gegengezeichnet werden, um die Selbstverstrickung Seldons ins galaktische Schicksal aufzuschieben und zugleich einzulösen. Soweit also die Grundidee von Asimovs Foundation-Zyklus.
Barabási beginnt seinen Science-Aufsatz (S. 639) nun mit den Worten:
Nachdem Barabási dann in dem Artikel die Errungenschaften und Evidenzen seiner network science vorgestellt hat, schließt er seine Betrachtung (S. 641) mit einem optimistischen Fingerzeit auf die Realisierbarkeit dessen, was er anfangs noch einen bleibenden Wunschtraum nannte:
Damit will ich es einmal mit den langen Zitaten gut sein lassen, aber ich finde den futuristischen Optimismus Barabásis einfach immer noch sehr erstaunlich und das Begehren, das sich in der Vision einer kollektiven Überbietung Seldons bekundet, gerade in seiner Naivetät nach wie vor unheimlich. Was ist das für ein Begehren in diesem Wunschtraum? Der Wille zur Macht? Oder will Barabási einfach auch nur einmal so ein holographisches Mausoleum haben?