Irgendwie kann man schon gar nicht mehr völlig vorbehaltlos einen Roman in die Hand nehmen, der sich der DDR-Zeit widmet. Handelt es sich wieder um eines dieser nostalgischen Bücher? Um eine Darstellung ostdeutscher Vergangenheit, die entweder zur dümmlichen Komik verkommt oder der persönlichen Abrechnung dient; anklagt, aber nicht erzählt? Solche Bücher haben ja durchaus ihre Daseinsberechtigung, sind aber nicht unbedingt ein Lesevergnügen … Das kann man nie wissen, was das für ein Buch ist, und muss es daher immer wieder darauf ankommen lassen.
Eugen Ruge erzählt mit seinem Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie (2011) eine Geschichte jüngster Vergangenheit und zwar so, dass man begeistert ist, dass man überrascht ist, beschämt, empört, dass man gerührt wird und lachen muss und am Ende denkt: So vielschichtig kann das Leben gewesen sein. Es ist ein Buch über Beziehungsgeflechte und Familienkonstellationen. Ein Buch, das einem bewusst macht, wie beschränkt die eigene Perspektive auf das Leben ist und dass man selbst von denjenigen, mit denen man aufs engste zusammenlebt, immer nur die kleinen Ausschnitte erfährt, die sie einem verraten oder die man erspürt, ohne sicher sein zu können, was man eigentlich weiß vom anderen. Und dass man manchmal eine Geschichte teilt, ein Leben, einfach nur deswegen, weil man dabei gewesen ist.
Wer kennt das nicht, diese Familienfeiern, bei denen man als Kind in schicke Klamotten gesteckt wurde, die immer irgendwo kratzten und die man nicht bekleckern durfte, so dass man noch vor der eigentlichen Feier eine gewisse Beklemmtheit nicht mehr los bekam. Und dann sollte man von Gast zu Gast gehen, jedem brav die Hand schütteln, Guten-Tag sagen zu einer Reihe bekannter und einer Reihe fremder Personen, die ihrerseits sehr gut zu wissen schienen, wer man war, und die einen schrill begrüßten (angeregt vom ersten Sekt und der Euphorie der Feierlichkeit) oder die desinteressiert die Aufdringlichkeit des Kindes honorierten (flüchtig, mit einem Blick, ohne sich im Gespräch mit dem Tischnachbarn unterbrechen zu lassen).
Solche Situationen erzählt Ruge aus der Perspektive verschiedener Figuren. Da ist die russische Großmutter Nadjeshda Iwanowna, die zum 90ten saure Gurken verschenkt, ihren Urenkel mit Affidersin begrüßt und nicht versteht, warum der Junge verlegen kichert und verschwindet. Im Stimmengewirr der deutschen Gäste denkt Nadjeshda an die Weiten der Taiga, an ihre Schwestern und die Wölfe im Wald, an ihre Mutter Marfa, der zu Ehren sie die erste Kuh benannt haben und dann an den Umzug, die neue Heimat in Neuendorf nahe Potsdam. Da ist die Gastgeberin Charlotte, Institutsleiterin, souverän, elegant und am Rande des Nervenzusammenbruchs, weil der Enkel Alexander nicht erschienen ist, um den Tisch auszuziehen. Es ist der 1. Oktober 1989, wenige Wochen vor dem Mauerfall. Alexander hat Republikflucht begangen und ist nun im Auffanglager Gießen. Die Mutter Irina ist deswegen nicht zur Feier gekommen und Wilhelm, der 90-jährige Jubilar, fragt sich, was der ganze ‘Schlamassel’ soll. Der Delegierte der Parteiführung bringt Blumen vorbei, hält sich mit umständlichen Reden auf und verleiht einen Orden, obwohl doch klar ist, dass das Land ein Problem hat, und der Wohnbezirksparteisekretär Wilhelm kippt einen Kognak nach dem anderen und weiß, solche Probleme werden in Moskau gelöst. Aber hier ist Neuendorf, und das Problem ist, dass Moskau selbst zum Problem geworden ist, irgendwie so, denkt Wilhelm, muss es wohl sein, aber er ist nicht mehr so ganz in der Lage, das zu formulieren.
Auf diese Weise – mal aus der Perspektive der einen, dann der anderen Figur – umkreist Ruge die Geschichten der Familie, die sich ergänzen, durchdringen, sich gegenseitig erklären und die offenen Stellen zeigen. Dabei streift er Zeiten, Orte, politische Regime und fügt alles zu einer großen Landkarte historischer Vergangenheiten zusammen. Diese reicht von 1952 bis 2001, vom mexikanischen Exil und dem kommunistischen Kampf der Großeltern bis zur spontanen Mexikoreise des Enkels Alexander, von dessen Vater Kurt und seiner Frau Irina, ihren Träumen, Ansprüchen, Kompromissen, bis zur Urenkelgeneration usw. usf.
Wer Gabriel García Márquez Hundert Jahre Einsamkeit mag, wird von Ruges Roman begeistert sein. Ein ähnliches Erzählen wird hier auf die jüngste Vergangenheit projiziert und dadurch Stimmungen eingefangen, Innenansichten und Lebensläufe, die unterschiedlicher nicht sein können, sich aber gerade in ihrer Gesamtheit zu einem großen Familien- und Gesellschaftsroman zusammenfügen. Dies alles geschieht leicht, mit Witz und den nötigen Respektlosigkeiten. Ein Roman, den man nicht so schnell vergisst!
Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie. Rowohlt, 2011. Hardcover, 19,95 Euro.
Der Einstiegsabsatz hätte mich fast von der weiteren Lektüre abgehalten. Dann habe ich aber doch weiter gelesen. Zum Glück! Denn sonst hätte ich ja diese wunderbar unterhaltsame, Neugier weckende Rezension verpasst, die Lust auf mehr macht…auch auf den Roman, aber mehr noch auf weitere Texte von Dir, kallibri :)
danke, oblomova! bei deinem ersten satz ging es mir ähnlich wie dir und ich dachte, ohje, was kommt jetzt? aber dann schien dir die rezension ja doch gefallen zu haben, was mich freut. ich kann das buch nur empfehlen!