Dieses Buch kann man nicht rezensieren. Man kann es nur zitieren. Denn alles, was man beim Lesen über das Buch denkt, artikuliert es kurz darauf selbst.
„Gerald Linds literarisches Debüt Zerstörung ist, die Terminologie des Textes aufgreifend, ein Phallogozentrismus auto(r)erotischer Art, eine gut geölte Selbstauratisierungs- und -inszenierungsmaschine, eine Galerie des megalomanischen Self-Making, ausschließlich bestückt mit autohagiographischen Texten, das eigenikonographierte Portrait of the Academic as Angry Young Artist, ein Anti-Entwicklungsroman mit sich verlaufendem Handlungsbogen.“
So charakterisiert die „Patentrezension“, die das Buch im „Appendix I“ gleich mitliefert, das Romandebüt des promovierten Österreichers. Vom Verlag als „Roman“ verkauft, steht im Buch selbst: „Ich scheiße auf einen Untertitel. Ich scheiße auf eine gattungspoetische Deklaration.“ Ein Benennungsvorschlag für die Textsorte findet sich dann in einer Fußnote der „I. Hauptrede“, die in Form einer Seminararbeit über den Roman Zerstörung von Gerald Lind verfasst ist: Es handelt sich ihr zufolge um einen „intratextuelle[n] Paratext“. Da der Text zum Paratext nicht existiert bzw. beide in eins fallen, tragen mit Kürzeln belegte Zitate aus dem in den Hauptreden analysierten Roman Zerstörung (wenn sie nicht aus einem anderen Teil des Buches übernommen sind) die Seitenzahl der Seite, auf der sie zitiert werden. Der „Themenkomplex Literatur und/als wissenschaftliches Schreiben“, um den und in dem der ‚Roman‘ somit kreist, wird natürlich ebenfalls vom Autor selbst benannt (S. 69) und ausführlicher beschrieben (S. 109 f.).
Dieser Exorzismus eines promovierten Germanisten und Kulturwissenschaftlers, der das aufgesogene Wissen durch Zerstörung wieder loswerden, aus dem Denk- und Schreibgefängnis der Wissenschaft ausbrechen will, um literarisch schreiben zu können, fing nach Aussage des Autors auf der Rückfahrt von einer Konferenz an, wo er alles listete, was ihn nervt: „Ich scheiße auf […]“ beginnen entsprechend die meisten Sätze der beiden „Vorreden“, z.B.
„Ich scheiße auf den Strukturalismus, den Poststrukturalismus, die Neomoderne, die Postmoderne, die Postpostmoderne, die Neopostmoderne, die Hypermoderne, die Popmoderne.“
Weiter gedieh der Text, indem der Autor darauf seinen eigenen Anfangstext analysierte. Als Gutachten-Parodie mit Passivkonstruktionen-Exzess benennt er selbst ein „repetetives Moment“ sowie „Redundanz und Penetranz“ und bezeichnet den Autor als „intellektuelle[n] Wutbürger“ „zwischen Lustgewinn und Frustgewinn“. Dabei „ist also diese wegwerfende Geste ein Einfluss markierendes Zitat“, „die Erfindung eines (mit 34 Jahren nicht mehr wirklich) jungen Schriftstellers über Spiegelungsmodi, ganz unabhängig davon, ob man von einem fiktionalen oder einem realen Autor in diesem Text ausgeht“, „die Erfindung eines Autors durch (‚)Zerstörung(‘) – der Einflussängste“. Denn los wird man den ganzen intellektuellen Ballast so schnell nicht, wie man all den gescheiten Antworten des – wie es schien realen – Autors im Gespräch nach seiner Lesung in Berlin anmerkte. Er habe sich beim Schreiben eher an The Ecstasy of Influence von Jonathan Lethem gehalten als an Harold Blooms The Anxiety of Influence.
„Libertinär und libidinös ist diese Zerstörung also, und natürlich notwendig […]. Denn Zerstörung sensu Lind bedeutet (auch) Auseinandersetzung mit der literarischen, philosophisch-theoretischen, literaturwissenschaftlichen, kulturellen (in allen Bedeutungsvarianten) ‚Tradition aller toten Geschlechter‘. Auseinandersetzung im Sinne von Abweisung und Aufnahme in das eigene Schreiben […].“ (Appendix II)
Als Forschender, Lehrender, ehemals Studierender und nun im Unimanagement Arbeitender kennt Gerald Lind den Literatur- und Wissenschaftsbetrieb. In der „V. Zwischenrede“ führt er z.B. vor, wie 35-jährige Literaturwissenschaftler in der Kneipe egoman aneinander vorbeireden – außer es geht um Sex. „Als Ausrufezeichen dieser Kritik an den Mechanismen des Literaturbetriebs können die sogenannten ‚Patentrezensionen‘ am (relativen) Ende des Romans gelesen werden.“
Wie zuweilen auch anderswo sind die Fußnoten häufig das Interessanteste. Stärker als in der Zerstörungswut des Autors habe ich mich in ihnen wiedergefunden: eigene Anfängerinnenfehler oder das hartnäckige Besserwisserinnen- und Abschweifertum. Seien es nervige Standardformulierungen kombiniert mit Nominalstil und unnötigen Fremdwörtern („Auf die verschiedenen Variierungen von Zerstörung in Zerstörung, auf die modi operandi der Zerstörung also, kann hier aus Platzgründen leider nicht eingegangen werden.“) oder das unsägliche „übrigens“, das eine Überlegung einleitet, die so gar nichts mit der eigentlichen Fragestellung zu tun hat. In einer Fußnote hat der Autor, der alle Figuren seines ‚Romans‘ ebenfalls „Gerald Lind“ nennt (als Protest dagegen, dass Wissenschaftler sonst immer „Kafka“ schreiben, wenn sie eigentlich etwas über sich selbst aussagen wollen), geschickt seine eigene Doktorarbeit untergebracht, als „Studie eines Namensvetters von Gerald Lind“.
Statt „zu hoffen, dass zukünftige Literaturwissenschaftler/innen die hier aufgezeigten Interpretationsmöglichkeiten weiterverfolgen und ausarbeiten“, müsste man, um dem Buch überhaupt etwas hinzuzufügen, wohl besser den literarischen Text schreiben, den die versammelten intratextuellen Paratexte des Buches vorgeben zu besprechen. Da die Paratexte aber offensichtlich sehr gut ohne sogenannten Primärtext auskommen, wäre das wohl ähnlich sinnlos wie diese Rezension. Über Literatur schreiben können die meisten von uns nun einmal besser, und durch den Spiegel, den Gerald Lind uns vorhält, indem er diese Erkenntnis selbstironisch zur Schau stellt, können wir bei der Lektüre über unsere eigene Beschränktheit schmunzeln.
„Kann man das wirklich lesen?“, fragte, zögernd, ob sie sich das Buch kaufen solle, die einzige Besucherin von Gerald Linds Lesung in Berlin, die nicht mit dem Verlag oder dem Autor befreundet, verschwägert oder aus dem Wissenschaftsbetrieb schon bekannt war – sondern gekommen, weil sie seine Schwester in Indien kennengelernt hatte, also doch so etwas ähnliches wie verschwägert. Der Autor antwortete selbstbewusst: „Natürlich kann man das lesen, das habe ich ja gerade vorgemacht.“ Es kommt wohl auf die Vorstellung an, die ‚man‘ von diesem „man“ hat. Für die Leser_innen dieses Blogs jedenfalls ist die Lektüre geradezu ein Muss und sicher ein Genuss. Um konsequenterweise mit einem Zitat zu enden: „Wer dieses Buch nicht liest, ist selber schuld.“
Gerald Lind: Zerstörung. Berlin: Neofelis 2013.
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