Seit ich optisch zu den Normalbürgern übergelaufen bin, muss ich mich bei Personenkontrollen am Bahnhof nur noch fremdschämen. Wer leicht graumeliert dunkelblonde Haare hat, kann wohl gar kein Krimineller sein – selbst wenn (oder vielmehr gerade wenn) Kriminalität so weit gefasst wird, dass schon die zufällige Geburt in einem ‚falschen‘ Land oder von den ‚falschen‘ Eltern dazu gehört, so sie in verweigerter Aufenthaltserlaubnis oder eingeschränkter Reisefreiheit mündet.
Als meine Haare noch hennarot leuchteten und ich in selbstgenähten Kordminiröcken und leicht ramponierten Schnürstiefeln unterwegs war, wurde auch ich am Bahnhof von Polizisten aus der Masse der Reisenden herausgefischt, musste mich ausweisen und meinen Rucksack durchsuchen lassen. „Ihr Idioten, wenn ich in das Raster falle, nach dem Ihr die Leute auswählt, dann findet Ihr doch maximal die kleinen Fische, die nur irgendwelches Zeug verticken, weil sie selbst arme Schweine sind. Diejenigen, die im großen Stil mit Drogen Geld verdienen, fallen optisch sicherlich viel eher in Eure Vorstellung vom ‚deutschen Normalbürger‘, und wer weiß, ob die überhaupt Bahn fahren.“ Sowas Ähnliches dachte ich mir damals zwar, aber ich hatte keinerlei Ohnmachtsgefühl, konnte ich doch selbst entscheiden, ob ich diese Gedanken auch ausspreche, wie freundlich oder unfreundlich, kooperativ oder den Prozess verzögernd ich mich der Situation stelle – ich wusste ja, dass sie die Falsche herausgefischt hatten und bei mir nichts finden würden. Damals war ich offenbar auch noch nicht so in Eile.
Ohnmacht empfand ich bloß, wenn ich nicht selbst betroffen war: wenn ich z. B. wiederholt Zeugin wurde, wie Nicht-EU-Bürger in Basel aus dem Nachtzug Frankfurt-Mailand in die dunkle Kälte geschickt wurden, weil sie nur eine Schengen-Visum hatten, auf ihrem Weg von Deutschland nach Italien also die Schweiz nicht passieren durften. Schon damals empfand ich auch etwas wie Scham wegen meines deutschen Ausweises, den ich ohne eigenen Verdienst, einfach durch den Zufall der Geburt erhalten hatte, und der mir die kalte Baseler Nacht vom Leib hielt.
Heute am Bahnhof hatte ich nun wieder einmal Gelegenheit zur Scham, als eine mir entgegenkommende Gruppe junger bis mittelalter Frauen mit fünf oder sechs Kopftüchern und drei Kinderwägen von zwei Polizist_innen aufgehalten wurde. Ich hatte gleich ein unangenehmes Gefühl, diesen Verdacht auf Willkür, sputete aber weiter auf Bahnsteig zwei: die Eile, die Zugbindung …
Aufgrund einer zehnminütigen Zugverspätung wurde ich dann von dort aus unfreiwillige Zeugin der Szene, wobei meine Sicht durch die blendende Wintersonne behindert war. Auch akustisch drangen über die Entfernung nur ab und zu Wort- oder Satzfetzen an mein Ohr. Polizist: „Haben Sie ein Problem damit?“ Frau: „Nein, …“ – der Fortgang der Antwort kam nicht bis zu mir, aber der Tonfall des „Nein“ hatte nach einem folgenden „aber“ geklungen. Mein Problem an solch zufälliger Zeugenschaft ist, dass ich – anders als wenn ich selbst die von der Polizei Kontrollierte bin – nicht weiß, ob es nicht vielleicht doch einen auch aus meiner Sicht legitimen Grund für die Kontrolle gibt. Ich hege also einen Verdacht gegen willkürliche Polizist_innen und zugleich einen Verdacht gegen meinen Generalverdacht gegenüber der Polizei. Vielleicht gab es ja konkrete Hinweise, dass sich eine gesuchte und gefährliche Gruppe krimineller Frauen auf den Weg nach G. macht, die sich bei Überfällen mit Kopftüchern vermummen und ihre Waffen in doppelbödigen Kinderwägen transportieren?
Während die Polizistin die ganze Zeit telefonierte, sprach der Polizist mit den Frauen. Ich hörte so gut wie nichts, bis auf „Wir verstehen alle Deutsch, die anderen sagen nur halt grad nichts.“ Kurz bevor mein verspäteter Zug einfuhr, hatte die Polizistin fertig telefoniert. Polizistin: „Darf ich Ihnen das so geben und Sie verteilen selbst?“, und sie überreichte ihnen (vermutlich) einen Stapel Ausweise. „Na, dann noch viel Spaß beim Einkaufen“, sagte die Polizistin und machte mit ihrem Kollegen den Weg Richtung Stadt frei. Die mutmaßlichen ‚Kriminellen‘ waren wieder unter die ‚normalen Konsumbürgerinnen‘ einsortiert, und mein Zug fuhr ein.
Beim Einsteigen dachte ich nur: Schon wieder eine Fremdheitserfahrung am Bahnhof, diesmal durch Fremdschämen. Fremdschämen, nicht so sehr, weil ich mich in die Polizistin hineinversetzt hatte und an ihrer Stelle Scham empfand – obwohl vielleicht auch das vorübergehend, „Was für ein beschissener Job“, hatte ich gedacht –, schon gar nicht, weil ich einen Grund darin gesehen hätte, mich für die aufgehaltenen Frauen zu schämen, sondern vielmehr, weil ich mich durch das Schämen dafür, wie Menschen hier behandelt werden, selbst irgendwie fremd in diesem Land fühlte. Dieses Land, in dem ich meist gerne lebe und das ich in zwar bescheidener Weise, aber doch irgendwie mitgestalten will, ist nicht mein Land, wenn es andere nach so rassistischen Kriterien zu Fremden und zu Verdächtigen macht.
Öh ?
noch sie so eine Personenkontrolle gesehen … Da gucken die willkürlich in die Ausweise von Reisenden, mitten auf dem Bahnsteig ?
Soll das das Pendant zur Polizeikontrolle auf der Strasße sein, oder was ?
Seh ich jetzt auch nicht dauernd, die Polizeipräsenz an Bahnhöfen schwankt meiner Wahrnehmung nach insgesamt etwas, aber wenn Polizist_innen da sind, kontrollieren sie tatsächlich ab und zu ’stichprobenartig‘ irgendwelche Personalien, ja.
Oh lala, gut zu wissen !
Dein Fremdschämen hat nun auch eine gesetzliche Grundlage: „Urteil: Polizisten dürfen Reisende wegen ihrer Hautfarbe kontrollieren“ http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,824066,00.html
[…] Kriterien erfolgen. Noch im Sommer hatte ich mich bei Pro Asyl erkundigt, was ich gegen dieses Fremdschämen am Bahnhof tun könnte. Die freundliche Antwort gab meinem Schamgrund zwar einen Namen – “so was […]