Robert Menasse erzählt die EU als von Menschen gemacht – und deshalb tragikomisch
Als ich Unter den Linden in Berlin dieses repräsentative Atrium mit gewöhnungsbedürftiger Akustik betrete, trauere ich ja doch ein wenig der intimen Atmosphäre im Buchhändlerkeller nach, wo ich vor etlichen Jahren Robert Menasse bei seiner Lesung aus Ich kann jeder sagen lauschte und wo man von allen Plätzen jede Träne im Augenwinkel des Autors erkennen konnte. Aber natürlich sei ihm der Deutsche Buchpreis gegönnt, er hat ihn verdient! Und so gehe ich wenigstens in der literaturinteressierten Menge unter, als Robert Menasse zu Beginn erst einmal ein Foto von uns schießt. Er sei ja auf Facebook und weil er da nichts Persönliches schreibe, wisse er nie, was er reinstellen soll, also postet er Fotos seines „geliebten Publikums“.
Dann aber setzt er sich zu Moderator Thomas Böhm (von den „Literaturagenten“ auf Radio 1) auf die Bühne und erzählt von der Entstehung seines Romans Die Hauptstadt bzw. vor allem von Brüssel und Europa. Vieles davon konnte man literarisch eingebettet schon bei der Lektüre seines Romans erfahren, in der Mündlichkeit hat es jedoch erneut seinen Reiz – insbesondere Menasses schön österreichische Aussprache von „Schwein“.

Der Prolog und der Anfang des ersten Kapitels steht als Leseprobe auf der Website des Suhrkampverlags als Download zur Verfügung.
Der Roman beginnt nämlich mit einem Prolog, in dem ein Schwein durch Brüssel läuft und der alle Protagonist*innen in Bezug auf dieses Schwein kurz auftreten lässt. Von Böhm gefragt, wie er auf diese geniale Idee gekommen sei, behauptet der Autor zunächst, das nicht mehr zu wissen. Doch bald darauf gibt er zu, „das Schwein ist mir in seiner Komplexität ans Herz gewachsen“. Er habe sich intensiv mit Schweinen befasst, weil er recherchierte, womit sich verschiedene Generaldirektionen der EU-Kommission beschäftigen. Das zeige nämlich sehr schön, dass „die EU“ nicht so eine statische und abstrakte „Einheit“ ist, wie es Medienberichte häufig durch Formulierungen wie „Die EU will …“ suggerieren. Vielmehr müssten oft schon innerhalb der Kommission erst einmal Kompromisse gefunden werden. Und die größte sogenannte „Querschnittsmaterie“ sei eben das Schwein, mit der diverse Ressorts wie Landwirtschaft, Handel etc. zu tun haben.
Für seinen Roman hat Robert Menasse vier Jahre in Brüssel gelebt, um herauszufinden, wie EU-Bürokraten ticken, und zu schauen, ob sie „literaturfähig“ sind. Schließlich sei es doch historisch absolut neu, dass die Rahmenbedingungen für einen ganzen Kontinent in einer Stadt produziert werden. Menasse wunderte sich, warum das nicht mehr Aufmerksamkeit erzeugt. Um EU-Beamte kennenzulernen, rief er den österreichischen Botschafter an, der ihm Kontakte vermittelte und diese wiederum weitere Kontakte. So führte er Wochen, ja Monate viele Gespräche mit diesen Menschen, und weil er dabei ständig essen gehen musste, nahm nicht nur sein Roman, sondern auch er selbst immer mehr zu. Und er gewann Brüssel als Stadt lieb, sodass Die Hauptstadt neben einem EU-Roman zugleich ein Stadtroman wurde, in dem auch Brüsseler Figuren auftreten, die nicht für die EU arbeiten. Wenn man in Brüssel lebe, sei zudem zu spüren, wie die NATO Schatten über die Stadt werfe, deshalb findet sich auch dazu ein Erzählstrang im Roman.
Das Schwein jedenfalls sei ja geradezu eine Universalmetapher: vom Glücksschwein bis zur Drecksau, von der Judensau zum Nazischwein, Hauptnahrungsmittel in einer Kultur, unrein in einer anderen … Apropos „Judensau“ und „Nazischwein“: Im Roman wird mit dem Romantitel neben Brüssel auch Auschwitz als „Hauptstadt“ Europas verhandelt, geht es doch auch „um das Narrativ der Europäischen Kommission […], sie ist entstanden als Antwort auf den Holocaust, das soll sich nie mehr wiederholen können, wir garantieren Frieden und Rechtzustand“ (Die Hauptstadt, S. 242).
Die im Roman erzählte Dienstreise nach Auschwitz zum „27. Jänner“ hat Menasse ebenfalls selbst unternommen. Im Roman heißt es über die Figur Martin Susman in Auschwitz „Er fühlte sich – wie? Er konnte es nicht sagen, er hatte kein Wort dafür, weil ‚betroffen‘ kein deutsches Wort mehr war, sondern eine Art von deutschem Hansaplast für die Seele“ (Die Hauptstadt, S. 139). All das Tragikomische, auf das Susman dort trifft und das man beim Lesen für literarisch überspitzt halten könnte, erzählt der Autor bei seiner Lesung nun als eigene reale Erlebnisse: Menasse hatte es geschafft, Teil der offiziellen Delegation zu werden, ist das Lager an diesem Gedenktag doch für allgemeines Publikum nicht zugänglich. Auf dem Badge, der ihm Zutritt verschaffte, stand tatsächlich „Ehrengast in Auschwitz“ und auf der Rückseite „Verlieren Sie diesen Badge nicht, sonst haben sie keine Aufenthaltsberechtigung im Lager“. Auch den Kaffeeautomaten von der Firma Enjoy habe er tatsächlich dort gesehen. „Man muss nicht künstlich was erfinden, die Realität ist schon tragikomisch.“
Der Autor freut sich über Böhms Beschreibung des Romans als „nicht lustig, aber komisch“. Auch in weniger bestürzenden Zusammenhängen das Komische zu finden, ist nämlich durchaus eine besondere Qualität des Autors, der über sich selbst sagt: „Ich bin halt a Spezialist überhaupt für des Tragikomische.“
Wenn er jemandem davon erzählte, dass er einen Brüssel-Roman schreiben wolle, guckten alle immer so ernst. Dabei ist alles Menschengemachte, also auch die EU, ja nicht nur langweilig! Die EU ist nicht so abstrakt, wie sie uns häufig vermittelt wird, schließlich gibt es ganz konkrete Ziele und Themen. „Das Menschengemachte muss und kann man erzählen. Wir sollten alle mehr erzählen als bekennen.“ So warnt der in Böhms Worten „überzeugte Europäer“ Robert Menasse vor allen, die sich stattdessen als „glühende Europäer“ bezeichnen, und formuliert Böhms Zuschreibung noch differenzierter: „Ich bin überzeugt von der Sinnhaftigkeit der europäischen Idee, wenn auch keinesfalls von allem, was den Status quo ausmacht.“ Nationale Egoismen jedenfalls sind in seinen Augen weiterhin ein Problem. Das zeigte auch der im Roman verarbeitete Anschlag im U-Bahnhof Maalbeek vom März 2016: Vier nationale Geheimdienste zusammen genommen hätten alle Infos gehabt, den Anschlag zu verhindern, aber keinem davon lag das Gesamtbild vor.
Ganz unabhängig davon, wie viel man durch Menasses Roman über Europa und die EU lernt und zum Nachdenken angeregt wird, ist es übrigens auch einfach ein großes Lesevergnügen!
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