Es wäre sicherlich voreilig und vielleicht sogar falsch, das Jahr 2012 als den Zeitraum zu datieren, in dem die Befolgung der allgemeinen Empfehlung, mindestens 3 Liter Wasser am Tag zu trinken, sich in ein untrügliches Anzeichen dafür verwandelt, dass man es mit Angehörigen einer nachwachsenden Sorte von Deppen, also der nächsten Generation, zu tun hat. Doch es mehren sich kulturkritische Stimmen, die eine solche Entwicklung nahelegen.
So stellt der Kabarettist und Moderator der Fernsehsendung quer Christoph Süß in seinem 2012 erschienenen Buch Morgen letzter Tag! Ich und Du und der Weltuntergang fest:
Drei Liter täglich (mindestens!) muss ein jeder Mensch zu sich nehmen, oder er wird, als Preis für sein Versäumnis, mit grassierender Blödheit gezeichnet. Deswegen muss man unablässig, zu jeder Stunde des Tages, eine kleine Wasserflasche mit sich führen und trinken. […] Und deswegen sieht man sie auch überall, die erwachsenen Flaschenkinder. Wo sie gehen und stehen, in Sitzungen sitzen, in Lounges lungern, sogar wenn sie auf dem Fitnessfahrrad indoor gegen den Zerfall des Körpers ankämpfen, überall sind sie bewaffnet mit ihren Trinkflaschen.
Süß sieht darin den bemerkenswerten Erfolg einer konsumistischen Gesundheitsideologie, der es gelungen ist, den solchermaßen Indoktrinierten einzureden, dass auf die körpereigenen Signale kein Verlass mehr sei:
Wenn wir Durst verspüren, dann sei es schon zu spät, heißt es. Zu spät wofür? Zum Trinken? Also ich habe schon öfters Durst gehabt und dann getrunken und bin noch am Leben. Scheint also zu klappen. Also warum diese ganze Wassertrinkerideologie? Weil Wasser Geld kostet. Und das, welches in kleine Plastikflaschen abgefüllt wurde, um unsere virtuellen Bedürfnisse zu befriedigen, kostet sogar besonders viel. Im Schnitt kostet das Wasser in Flaschen etwa tausend Mal so viel wie das, welches aus Ihrem Wasserhahn kommt.
Die Flaschenwassertrinkerideologie hat auch eine nicht zu unterschätzende bildungspolitische Tragweite, die uns Christiane Florin erklärt. In einem gestern auf Zeit Online erschienen Artikel wendet sich die Lehrbeauftragte für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn öffentlich an ihre nach viel Wasser, aber kaum nach Wissen dürstenden Studenten:
Das Erste, was ich von euch sah, waren diese großen Wasserflaschen aus Plastik. Während einer Doppelstunde Regierungslehre schafften viele von euch locker einen Liter. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass zu meiner Studienzeit während eines Seminars auch nur einer zur Flasche gegriffen hätte. Das hätte wertvolle Redezeit gekostet. Oder, wie man auch zwanzig Jahre nach 68 noch sagte: Zeit, um alles kritisch zu hinterfragen.
Solange getrunken wird, wird nicht geredet. Solange aber geredet wird, wird nicht geschossen. Woraus noch nicht folgt, dass die neue Generation gewaltbereiter wäre. Der unstillbare Durst mache sie sogar toleranter:
Auch große Worte großer Menschen, sagen wir von Max Weber und Theodor W. Adorno, stillen euren Durst nicht. Woher der kommt? Vom Diskutieren jedenfalls nicht. Ich hätte fordern können, in Deutschland einen Wächterrat nach iranischem Vorbild einzuführen. Ihr hättet trotzdem weitergenuckelt.
Da haben sie wir also, die Generation Wasserflasche: stets mit geschmacklosem, aber tausendfach überteuertem Durstlöscher bewaffnet, der unentwegt und unkritisch vertilgt wird, wie um sich selbst das Maul damit zu stopfen. Oder doch nicht? „als wassertrinkerin fühle ich mich ein wenig zu unrecht verunglimpft“, äußert sich sogleich kritisch eine Facebook-Nutzerin unter dem Link auf dem Zeit-Profil. Denn sie fühlt sich offenbar angesprochen. „Bereits in Kita und Grundschule bekommt das Kind heute angewöhnt, regelmäßiges Trinken ist wichtig und dass Flüssigkeitsmangel zu Konzentrationsverlusten führen kann. Ist diese Generation dann in den Hörsälen angekommen, müssen sie sich plötzlich solche Reden anhören. Verstehe Einer die Welt“, wundert sich eine Andere.
Kleine Wasserbilanz
Noch vor zehn Jahren hieß es: „Was, Du hast heute noch keine 3 Liter Wasser getrunken? Haha, nun wirst Du verblöden!“ Nun kehrt sich dieses Verhältnis offenbar um: „Was, Du trinkst 3 Liter Wasser am Tag? Wie blöd muss man sein!“ Nicht blöder wenigstens, als ein zunehmender Teil der industrialisierten Gesellschaft. Aus einer Studie von 2006 geht hervor, dass der Trinkwasserverbrauch in der Schweiz zu einem Drittel aus Mineralwasserimporten gedeckt wird. Obwohl die Schweiz ein Land ohne Wassermangel ist, hat sich der Import von Flaschenwasser seit 1996 verzehnfacht.
Im Januar 2009 meldet die FAZ: „Die Menschen in Deutschland haben im vergangenen Jahr mehr Mineralwasser getrunken als jemals zuvor. Der Pro-Kopf-Verbrauch stieg im Vergleich zum Vorjahr um 2,2 Prozent auf durchschnittlich 138 Liter. Das teilte der Verband Deutscher Mineralbrunnen mit.“ Das ist natürlich noch immer zu wenig, denn es sollten optimalerweise ja bei 3 l/Tag über 1000 Liter sein.
Die sogenannte Öko-Bilanz ist aber jetzt schon verheerend. Denn Wasser aus Flaschen ist nicht nur 1000 mal teurer als das aus dem Hahn, sondern auch 1000mal schädlicher für die Umwelt. Aber es ist gesund für uns – oder? Tatsächlich gibt es bisher keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass Wasser aus Flaschen irgendwie gesünder wäre als das aus der Leitung. Noch seltsamer aber ist, dass es in einem Land mit 100%igem Trinkwasserzugang überhaupt Mineralwasserimporte gibt, während in Ländern mit Wasserknappheit zugunsten kommerzieller Interessen die rare Ressource noch künstlich verknappt wird.
Unterm Strich bleibt eigentlich kein vernünftiger Grund übrig, warum man Wasser in Flaschen kaufen sollte, im Gegenteil. Es ist viel zu teuer, es ist nicht gesünder, es schadet der Umwelt und im schlimmsten Fall sogar anderen Menschen mit schlechterem Zugang zu Trinkwasser. Also warum steigt der Absatz trotzdem? Der gesamte Trinkwasserverbrauch in Deutschland nimmt dagegen ab. Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes ist der Wasserbedarf pro Person von 1987 bis 2007 von 146 auf 122 Liter pro Tag gesunken, dank technologischen oder ethischen Wassersparens.
Das hat jedoch negative Auswirkungen auf die wasserwirtschaftlichen Infrastrukturen. Denn lange Zeit war man von einem steigenden Wasserverbrauch ausgegangen, weshalb eine überdimensionierte Wasserinfrastruktur erschaffen wurde, deren suboptimale Ausnutzung nun steigende Kosten verursacht. Denn wenn zuwenig Wasser durchfließt, muss die Kanalisation häufiger und kostenaufwändiger gewartet werden, um Schäden an den Rohen und Geruchsbelästigungen zu vermeiden. Wer also wirklich ständig viel trinken muss, ohne Durst zu haben, das sind nicht wir, sondern die Wassernetze. Also füttern wir sie…
Bibo, ergo mingebo!
Die Frage nach dem richtigen Wasserverbrauch war seit jeher auch mit der Frage nach der richtigen Gesellschaftsordnung verbunden.
In seinem berühmten Gesellschaftsentwurf Utopia (1516) erklärt der humanistische Gelehrte Thomas Morus, dass seine Utopier „die Annehmlichkeiten des Essens und Trinkens und alle anderen Ergötzlichkeiten der Art“ zwar als erstrebenswert betrachten, „aber nur um der Gesundheit willen“. Der Durst als eine leibliche Mangelerscheinung verweist auf die niedrigsten aller Genüsse und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten. Umso weniger man also aus Durst trinkt, desto besser, könnte man sagen, jedenfalls, solange es noch der Gesundheit dient.
In seiner 250 Jahre später erschienenen Abhandlung über den Zögling Emil (1762), den Jean-Jacques Rousseau zu einem idealen Subjekt des Gesellschaftsvertrags erziehen will, schreibt der Philosoph: „So oft Emil Durst haben wird, soll man ihm zu trinken reichen. Man soll ihm reines Wasser geben, und zwar ohne alle Zubereitung. […] Ich wünschte lieber, daß er bisweilen krank wäre, als daß er fortwährend auf seine Gesundheit Acht gäbe.“ Umso mehr also aus Durst getrunken wird, umso besser, könnte man sagen, auch wenn es nicht immer der Gesundheit dient. Wenn die Natur ihr Recht verlangt, dann soll sie es bekommen.
Heute müsste man vielleicht sagen, dass ein ideales Gesellschaftsmitglied stets genug Wasser trinke, um für ausreichend Abwasser zu sorgen, damit der volkswirtschaftliche Schaden in den Kanalisationen so gering wie möglich und der Gewinn in der Wasserwirtschaft so hoch wie möglich bleibe. Der Volkskörper der Generation Wasserflasche ist da ein noch unausgelastetes Pumpspeicherwerk. Diese Unwirtschaftlichkeit durch den gesteigerten Verbrauch von Mineralwasser zu beheben, wäre aber, wie oben ersichtlich wurde, der falsche, weil ökologisch und moralisch nicht zu vertretende Weg. Eine einfache Lösung des Dilemmas würde darin bestehen, dass wir einfach – Leitungswasser aus Trinkflaschen konsumieren. Sofern das unsere eigene Wasserleitungen wären, würde damit Süßens Flaschenwassertrinkerideologiekritik hinfällig. Übrig bliebe nur Florins bildungspolitisches Unbehagen. Wenn man die ganze Zeit damit beschäftigt wäre, den kulturellen Wasserkreislauf aufrechtzuerhalten, hat man dann noch genug Zeit zum denken und diskutieren?
Vielleicht könnten uns hier die Römer Vorbild sein, deren Aquädukte wir noch heute bewundern. Denn sie haben es verstanden, das öffentliche Abschlagen von Wasser zu einem sozialen Ereignis zu machen. Man könnte diese Erfindung auch leicht für die Mediengesellschaft adaptieren. Sie sorgt nämlich nicht nur für die erforderliche Transparenz der Post-Privacy-Bedürfnisse. Man stattet die öffentlichen Latrinen einfach mit WLAN und Steckdosen aus und dann lassen sich auch gut Seminare darin abhalten oder Online-Vorlesungen verfolgen. Nebenbei könnte man seine persönlichen Daten aus eingebauten Toilettensensoren über Apps auswerten und auf Facebook und Twitter verbreiten lassen. Der persönliche Kloakenkoeffizient ließe sich dann sogar als Ökobilanz mit in die Bewertung der Studienleistung einbeziehen. Dann können sich auch weniger Redselige mit beeindruckenden Beiträgen zum gesellschaftlichen Gemeinwohl hervortun.
Nachtrag 29. Mai: Inzwischen hat sich ein Vertreter der von Florin kritisierten ‚Generation Wasserflasche‘ auch auf Zeit Online zu Wort gemeldet und verteidigt seine Diskussions- und Theorieunlust damit, dass das Studium eben „zu trocken“ (sic!) sei. Als wäre diese Wortmeldung „von Florin selbst zur Untermauerung des eigenen Standpunkts geordert“, bestätigt der B.A. Absolvent nur „die Dekadenz-Jeremiade“ der pauschalisierenden Dozentin, ärgert sich der theorieblog über Die Flaschen bei der Zeit.
Zum versöhnlichen Ende passt vielleicht auch diese charmante Ulysses-Passage über die Römer:
„- Was war ihre Kultur? Machtvoll groß, das geb ich zu: aber gemein. Kloaken: Siele. Die Juden in der Wildnis und auf den Bergesgipfeln sagten: Hier ist gut sein. Laßt uns Jehovah einen Altar bauen. Der Römer dagegen brachte, wie der Engländer, der in seine Fußstapfen tritt, jeder neuen Küste, auf die er den Fuß setzte (auf unsre Küste setzte er ihn nie), nur seine Kloakenbesessenheit. Er blickte in die Runde in seiner Toga, und er sagte: Hier ist gut sein. Laßt uns ein Wasserklosett installieren.
– Was sie dann auch prompt taten, sagte Lenehan. Unsere alten Herren Urväter hatten, wie wir im ersten Kapitel der Guinnessis lesen, eine Vorliebe für alles, was in Strömen fließt.“
(Joyce, Ulysses, Aiolos)
In der Tat eine charmante Passage, die direkt zu einer Historisierung von Žižeks berühmter Toilettenideologiethese einlädt: