Am 6. März 2019 hatte das Literarische Colloquium Berlin sich und uns James Baldwin »auf Wiedervorlage« gelegt (vgl. Veranstaltungsankündigung). Erster Programmpunkt war der Dokumentarfilm I Am Not Your Negro (Raoul Peck, 2016), der auf beeindruckende Weise deutlich macht, wie aktuell Baldwins Werk auch heute noch ist und dass die notwendige grundlegende Veränderung der Verhältnisse noch immer aussteht.
Anschließend waren die Übersetzerin Miriam Mandelkow, deren Neuübersetzungen von Baldwins Werken seit 2018 bei dtv erscheinen, und die Autoren Max Czollek, Michael Götting und Temye Tesfu eingeladen, Lieblingstextstellen aus Baldwins Texten vorzustellen und zu diskutieren.
Miriam Mandelkow über ihre Neuübersetzung
Zunächst erzählte Miriam Mandelkow von ihrem Neuübersetzungsprojekt. Zu ihrer Schulzeit war Baldwin Schullektüre, weshalb sie schon früh mit seinen Texten in Verbindung kam. Und seitdem haben sie sie nie wirklich losgelassen. Sie betonte, dass es sich bei den älteren deutschsprachigen Baldwin-Büchern durchaus um gute Übersetzungen handele. Allerdings habe man in den 1960ern und 70ern anders übersetzt als heute: Da war beispielsweise Rhythmus noch keine Kategorie fürs Übersetzen. So wurden etwa die für Baldwin typischen, stilbildenden Wortwiederholungen, die an den Blues, aber auch die Bibel anknüpfen, von den älteren Übersetzungen meist nicht übernommen. Ganz im Sinne damaliger Übersetzungspraxis und damaligen Stilempfindens haben die Übersetzenden vielmehr extra nach Synonymen gesucht, um Wiederholungen zu vermeiden.
Dann stellt sich für eine aktuelle Übersetzung die Frage, wie man das Wort »negro« übersetzt. Obwohl es durchaus Kolleg*innen gebe, die für eine Verwendung des deutschen N-Worts plädieren, habe sie sich dagegen entschieden und das in einer Nachbemerkung im Buch auch begründet: Anders als das deutsche N-Wort war »negro« zeitweise Selbstbezeichnung. Das deutsche N-Wort dagegen ist eher Entsprechung des englischen N-Worts, während es im Deutschen keine »weiche« Entsprechung zu »negro« gibt.
Als die Übersetzerin im Gespräch das deutsche N-Wort zunächst aussprach, kam aus dem Publikum der Wunsch, auch in der Meta-Diskussion darüber bitte nur »N-Wort« zu sagen, weil das ausgesprochene Wort zu hören aus Schwarzer Perspektive schmerze, die eigene Existenz bedrohe. Vermutlich kann ich als wc-Deutsche (weiß und christlich sozialisiert) das nie wirklich nachempfinden. Auf Miriam Mandelkows Reaktion, das sei Teil der Diskussion, und sie verstehe das, kam jedenfalls die Antwort: »Tust du nicht«, darauf Mandelkow: »Wir haben jetzt nicht den Raum, das auszudiskutieren, ich nehme das jetzt erstmal so an.«
Immerhin hatte der zuvor gezeigte Film aber ziemlich viele Einblicke gegeben, die eine solche Reaktion auf das N-Wort für mich sehr nachvollziehbar machten: Es geht nicht »nur« um Wörter, sondern um (bedrohte) menschliche Existenzen.
Temye Tesfu über Parallelgesellschaften und Empathie
Mit Temye Tesfu gehörte anschließend einem Autor das Podium, der selbst of Color ist. Zuerst stellte er kurz die Berliner Lesebühne »Parallelgesellschaft« vor (zum Facebook-Auftritt der Lesebühne). Das tut er auch in diesem Video-Porträt:
Anschließend las er einen Auszug aus einem langen Gespräch zwischen Nikki Giovanni und James Baldwin vor, in dem es um Empathie geht.
»You read something or you hear something, and you realize that your suffering does not isolate you; your suffering is your bridge.«
Darauf eine längere Passage über Pessimismus (»You can’t be romantic about love.«). Das Gespräch wurde bisher nicht ins Deutsche übersetzt, ist aber in voller Länge auf YouTube zu finden:
Max Czollek über Intersektionalität und Desintegration
Anschließend gehörte Max Czollek das Wort, der in seiner Streitschrift Desintegriert euch! (zum Buch auf der Verlagshomepage, mit Leseprobe) auch Baldwin erwähnt. Es gehe ihm um die Kontinuitäten, wir sind unsere Geschichte. Es gebe in dem Buch dann auch eine Passage aus Christa Wolfs Kindheitsmuster, die inhaltlich das Gleiche sage. Spannend fand er, dass es auch bei Baldwin nicht nur um Identitätspolitik, sondern um Intersektionalität geht: Baldwin konnte sich als Schuhputzerjunge aus Klassengründen nicht mit der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) identifizieren.
Zuerst las Czollek eine Passage aus Nach der Flut das Feuer (zum von Miriam Mandelkow übersetzten Buch auf der Verlagshomepage) über Baldwins Beziehung zu einem jüdischen Mitstudenten auf dem College und wie er einen jüdischen Freund mit nach Hause bringt. Anschließend dann einen Auszug aus Baldwins 1967 in der New York Times veröffentlichtem Essay »Negroes are Anti-Semitic Because They’re Anti-White«. Baldwin schreibt darin, dass man Juden gewisse Verhaltensweisen nicht als Juden vorwerfen kann, sondern als Weiße, genauso wie anderen Weißen. Es ist nämlich nicht so, dass Menschen durch eigenes Verfolgungsschicksal zu besseren Menschen gemacht würden. Man kann den Juden also keinesfalls mehr vorwerfen als Leuten, die ohne Verfolgungsschicksal dasselbe tun.
Michael Götting über die innere Diversität der Schwarzen Community
Als der Moderator, Ismar Hačam, Michael Götting als Autor vorstellte, der ein Buch über Rassismus in Deutschland und Europa geschrieben habe, antwortete dieser, in seinem Roman Contrapunktus gehe es nicht primär um Rassismus, sondern er zeige vor allem die innere Diversität der Schwarzen Community. Die Stimmen funktionierten zwar auch allein, gäben aber erst im Zusammenspiel den richtigen Klang (zur Verlagshomepage mit Leseprobe).
Als Götting als Teenager Baldwin las, habe er sich angesprochen gefühlt: »Endlich beschreibt mal einer, was mit mir ist«, obwohl er Afroeuropäer sei und Baldwins Text sich an Amerikaner richtet. Auf den Unterschied zwischen der Situation in Europa (die Europäer können Schwarze noch »unschuldig« als Fremde wahrnehmen) und Amerika (wo der Wunsch, zu dieser »Unschuld« zurückzukehren, Illusion ist, weil die Amerikaner miteinander verwobene neue Schwarze und neue Weiße sind) kommt Baldwin in einem Text zu sprechen, in dem er seine Situation in einem kleinen Schweizer Dorf beschreibt. Daraus gab Michael Götting sehr eindrückliche Passagen zu Gehör (dabei las er jeweils »deutsches N-Wort« oder »englisches N-Wort« und einmal »Farbiger, ich sag mal Schwarzer«).
Zebras und Fiktionsbescheinigungen
Als Miriam Mandelkow anschließend darauf aufmerksam machte, dass dies übrigens die Übersetzung von Pociao sei, klang das weniger nach Abgrenzung als vielmehr nach einer Information für das interessierte Publikum und Sichtbarmachen einer geschätzten Kollegin (Pociao gewann 2017 den anonymen DeLillo-Übersetzungswettbewerb von DÜF und FAZ).
Aus Miriam Mandelkows abschließend vorgetragenem Auszug aus dem Roman Beale Street Blues besonders hängen geblieben ist mir der Satz:
»Wir wurden angestarrt wie Zebras – und manche mögen halt Zebras und andere nicht. Aber ein Zebra nach seiner Meinung fragen tut keiner.« (zur Leseprobe auf der Verlagshomepage)
By Opihuck (talk) – Bundesgesetzblatt 2004, I S. 2975, Public Domain, Link
Den filmischen Abschluss des Abends bildete dann der Kurzfilm Off-White Tulips von Aykan Safoğlus, der mich unter anderem über die Existenz sogenannter Fiktionsbescheinigungen aufklärte.
»Die Bezeichnung „Fiktionsbescheinigung“ bezieht sich auf die juristische Fiktion des Fortbestands des bisherigen Aufenthaltsrechts, solange der Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis geprüft wird und noch nicht beschieden ist (auch „Fortgeltungsfiktion“ genannt)« (Quelle: Wikipedia).
Auch das nicht »nur« ein Wort, geht es doch bei aller vordergründigen »Fiktion« um reale Existenzen.
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